1. KAPITEL
Rebecca blickte blass und unbewegt auf den Anzeigenteil der überregionalen Tageszeitung, die aufgeschlagen vor ihr lag.
„Was wirst du tun?“, fragte Christina vorsichtig.
Es war früh am Morgen, der Arbeitstag hatte gerade erst begonnen. Jenseits der Tür ihres kleinen Büros hörte Rebecca das beruhigende Surren mehrerer Nähmaschinen und die gedämpften Stimmen ihrer fünf Angestellten.
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie, ohne den Blick von der großen, schwarz umrandeten Anzeige zu wenden, die ihr bedrohlich ins Gesicht zu springen schien:
Miss Rebecca Shaw, letzte bekannte Adresse im DorfThornleyin South Yorkshire, wird dringend gebeten, folgende Telefonnummer anzurufen, da ihre Mutter ernsthaft erkrankt ist.
Nein! Ich werde es nicht tun! schoss es ihr durch den Kopf. Wie konnte man überhaupt nur wagen, ihr so etwas vorzuschlagen? Sie wandte sich ab und blickte zum Fenster hinaus in den grauen Wintermorgen, während sie sich zehn Jahre zurückversetzt fühlte und wieder das achtzehnjährige Mädchen war, dessen verzweifelte Bitten niemand hören wollte.
Draußen war es bitterkalt. Der scharfe Nordwind fegte über die Schneereste und wirbelte sie wie Puderzucker auf. Eine Coca-Cola-Dose kullerte scheppernd über die Straße, vom Wind getrieben, und eine alte Frau, die völlig durchfroren aussah, kämpfte mit ihren schweren Einkaufstaschen gegen die Böen an.
Ein Junge kam auf seinem Rad um die Ecke. Die kräftigen Beine traten unbeirrt in die Pedale. Ein Lächeln huschte über Rebeccas Gesicht, das erste, seit Christina ihr die Zeitung hingelegt hatte. Die Nase des Jungen war rot von der beißenden Kälte, aber die blauen Augen funkelten vor Vergnügen. Er hatte Spaß am Kampf mit dem Wind.
„Rebecca? Sie ist deine Mutter“, gab Christina zu bedenken. „Anscheinend ist sie krank und fragt nach dir. Du kannst das nicht einfach ignorieren.“
Das Lächeln verschwand. Die grauen Augen blickten starr. Im Geiste hörte sie die Stimme ihrer Mutter.Du wirst es tun, Rebecca, oder du brauchst mir nie wieder unter die Augen zu kommen! „Nein, vermutlich kann ich das nicht“, stimmte sie ihrer Freundin resigniert zu.
„Ich könnte bei der Nummer für dich anrufen, wenn dir das lieber ist“, schlug Christina ihr vor. „Um erst einmal herauszufinden, wie krank sie wirklich ist.“
„Nein.“ Rebecca schüttelte den Kopf. Sie wusste genau, wessen Telefonnummer das war. Selbst nach zehn langen Jahren kannte sie sie immer noch auswendig. Es war der Privatanschluss von Thornley Hall. Jays Nummer.
Wieder hörte sie die Stimme ihrer Mutter.Jay liebt dich nicht, du Närrin! Er hat sich nur genommen, was du ihm so freigiebig angeboten hast! Du hast dich ihm den ganzen Sommer über ja förmlich an den Hals geworfen!
Und wie vor zehn Jahren tat es unvorstellbar weh. Damals hatte sie den Worten ihrer Mutter natürlich nicht geglaubt. Sie war gerade erst achtzehn gewesen, blind vor Liebe und völlig verängstigt. Nein, es hatte des Beweises aus einer anderen Quelle bedurft, damit sie die Dinge akzeptieren konnte, wie sie waren. Dann aber hatte sie jedes einzelne, grausame, demütigende Wort geglaubt.
Sie hörte das Zuschlagen der Haustür. Ein Schrammen und Scheppern verriet, dass sich jemand in der engen Diele bemühte, ein Fahrrad seitlich an den Treppenaufgang zu lehnen. Im nächsten Moment wurde die Bürotür aufgerissen und das grinsende Gesicht eines Schuljungen mit roten Wangen und windzerzaustem Haar erschien. „Hallo, Mom!“, begrüßte der Junge Rebecca aufgeregt. „Wow, hast du gesehen, wie stürmisch es draußen ist? Es hat mich fast vom Rad geweht!“
Ein überwältigendes Gefühl von Liebe stieg in ihr auf, sogleich gefolgt von einer ebenso starken wie unerklärlichen Angst, die ihr die Kehle zuschnürte. Sie räusperte sich. „Kit“, wandte sie sich ruhig an ihren Sohn, „ich muss einige Tage verreisen. Macht es dir etwas aus, solange bei Christina und Tom zu bleiben?“
„Natürlich nicht!“ Er betrat den Raum und brachte einen frischen Lufthauch mit herein. „Onkel Tom wird mich zum Angeln mitnehmen, wenn ich ihn freundlich bitte.“ Bei diesen Worten lächelte er Christina spitzbübisch zu und offenbarte dabei seinen unwiderstehlichen Charme, der seiner Mutter erneut einen Stich ins Herz versetzte. „Aber wo musst du hin? Doch nicht schon wieder auf Stoffsuche, oder?“
Rebecca nahm diese Ausrede dankbar an. „Ich fürchte, das ist es wirklich“, antwortete sie und warf Christina einen bezeichnenden Blick zu. „Wir haben gerade von einer neuen Weberei in Yorkshire erfahren, und Christina meint, es würde sich lohnen, sie sich einmal anzusehen.“
„Okay.“ Kit zuckte gleichmütig die Schultern. Er war es gewohnt, dass seine Mutter ihn immer wieder einmal bei Christina und Tom ließ, wenn sie sich auf die Suche nach guten, aber preiswerten Stoffen für ihre smarten Modelle machte. Und Christina und Tom, selber kinderlos, nahmen ihn immer gern bei sich auf.
„Da gerade Schulferien sind, könnten wir vielleicht einen Besuch bei McDonald’s und im Kino einplanen“, schlug Christina fröhlich vor.
„Toll! Oh ja, bitte, Tante Chrissy!“ Er drückte Christina überschwänglich an sich. „Wann musst du los?“, wandte er sich dann an seine Mutter,