1. KAPITEL
“Melisande ist hier – und warte erst, bis du den Mann siehst, den sie mitgebracht hat!”, verkündete Jennifer Knowles aufgeregt, während sie das Büro ihrer Chefin enterte und dabei bedeutungsvoll mit den Augen rollte. “Hinreißend – und bestimmt steinreich, so wie der aussieht! Nun, wenn er Melisandes Zukünftiger werden will, sollte er es auch sein”, fügte sie unverblümt hinzu. “Aber ich glaube, wir haben im Moment gar nichts für sie in Arbeit, und im Buch steht auch nichts.” Sie runzelte die Stirn, während sie das ledergebundene Auftragsbuch studierte. “DasSchwarzseidene hat sie doch bereits letzte Woche abgeholt.”
“Hm”, nickte India Lawson zustimmend, nahm ein halbes Dutzend Stecknadeln aus ihren zusammengepressten Lippen und betrachtete mit gerunzelter Stirn die pinkfarbene Seidenbluse, an der sie gerade arbeitete. “Sie ist zu einem Wohltätigkeitsball eingeladen und rief mich gestern an, ob wir nicht noch schnell etwas für sie zaubern könnten.”
“Natürlich vorausgesetzt, dass sie es umsonst bekommt”, fügte Jennifer sarkastisch hinzu. “Jetzt aber mal ernsthaft. Sie muss doch eine Stange Geld mit ihrer Rolle inEvergreen verdienen. Das Stück läuft bereits seit sechs Monaten, und es sieht auch nicht so aus, als sollte es demnächst abgesetzt werden. Ich habe vergeblich versucht, Karten fürs nächste Wochenende zu bekommen.”
India lächelte. “Vergiss nicht, dass Melisande allein dadurch, dass sie unsere Kleider trägt, eine ausgezeichnete Werbung für unser Atelier ist.”
“Ich weiß wirklich nicht, wie du immer so gelassen bleiben kannst”, knurrte Jennifer gereizt.
India lachte. “Sag Melisande bitte, dass ich in fünf Minuten bei ihr bin. Ach Jen, und biete ihr doch …” Fast hätte sie ‘eine Tasse Kaffee’ gesagt, erinnerte sich dann aber an die Beschreibung von Melisandes Begleiter. “Biete ihnen bitte ein Glas Sherry an”, korrigierte sie sich. “Ich muss schnell noch diese Bluse fertig machen, da Lady Danvers sie dringend für das Wochenende braucht.”
Die ausdrucksvolle Haltung, mit der Jennifer das Zimmer ihrer Chefin verließ, zeigte deutlich, was sie von Indias Entgegenkommen zahlungsunwilligen Kunden gegenüber hielt. Natürlich genoss India es, ihr eigener Boss zu sein. Das war ihr Bestreben gewesen, seit sie ihre Ausbildung beendet hatte. Und es war beileibe nicht leicht gewesen, ihren Traum zu verwirklichen. Nach dreijährigem Studium an einer Kunsthochschule hatte sie für wenig Geld drei weitere Jahre für einen sehr bekannten Modeschöpfer in Paris gearbeitet. Danach war sie eine Zeit lang im Einkauf tätig gewesen, wobei sie sich alles Notwendige über Materialkontrolle, Kalkulation, Buchführung und Rechnungswesen aneignete, um sich von anderen Designern abzusetzen, die zu glauben schienen, dasskünstlerisches Genie schon ein ausreichender Garant für Erfolg sei.
Immerhin hatte es sich für sie ausgezahlt. Die kleine Erbschaft eines Großonkels hatte es ihr schließlich ermöglicht, sich selbstständig zu machen. Zu ihrer eigenen Begeisterung hatte sich ihre erste kleine Kollektion ausgefallener Röcke und Blusen ausgezeichnet verkauft und es ihr ermöglicht, noch exklusivere Mode zu fertigen, die den Vorstellungen und Bedürfnissen der Londoner Gesellschaft genügen konnte. Und so zählte sie inzwischen einige wichtige Damen der Gesellschaft zu ihren Kundinnen, deren Fotos regelmäßig in verschiedenen Hochglanzmagazinen zu finden waren.
Als sie wenige Augenblicke später die Tür zu ihrem Verkaufsraum öffnete, fiel ihr erster Blick auf den Mann, den Jennifer als ‘hinreißend’ beschrieben hatte. Sie hat wirklich nicht übertrieben, dachte sie trocken, während sie ein professionelles Lächeln auf ihre Lippen zauberte und gleichzeitig den ausgezeichneten Schnitt seines eleganten grauen Anzugs registrierte, ebenso wie das farblich passende Seidenhemd mit Krawatte und die gepflegten, aber dennoch männlichen Hände, die selbst jetzt im März tief gebräunt waren. Sein dichtes dunkles Haar lockte sich bis zum Hemdkragen, und seine Augen waren von einem beunruhigenden harten Grau.
“India Darling!”, begrüßte Melisande sie mit ihrer heiseren, tragenden Stimme. “Sie retten mir das Leben. Zeigen Sie mir gleich, was sie für mich ausgesucht haben. Aber es muss etwas ganz Besonderes sein – etwas absolut Außergewöhnliches! Wenn es Simon gefällt, hat er mir versprochen, mir noch etwas zu kaufen. Und, India Darling, ist es nicht langsam an der Zeit, dass Sie aufhören, dieses schreckliche Schulmädchen-Outfit zu tragen? Niemand würde im Entferntesten glauben, dass Sie die aufregendste Sexy-Mode entwerfen!”
India hoffte, ihr Befremden erfolgreich verborgen zu haben, doch, als sie langsam den Blick hob, bemerkte sie, dass Melisandes Begleiter sie mit zynischem Amüsement beobachtete.
“Oh, ich habe euch noch gar nicht einander vorgestellt”, sagte die Schauspielerin geziert. “Simon Darling, das ist India, ein wirklich geschicktes kleines Ding. India, dies ist Simon Harries – Sie werden in den Gesellschaftsnachrichten über ihn gelesen haben.”
“Das habe ich, und im Finanzteil natürlich”, antwortete India leichthin, und war sich des wachsamen Ausdrucks auf Simon Harries’ Gesicht sehr wohl bewusst.
“Sie haben demnach ein ausgeprägtes Interesse an der Welt der Finanzen?”
India knirschte ob seines herablassenden Tones lautlos mit den Zähnen. “Natürlich, wie wahrscheinlich jede Frau”, sagte sie mit einem bedeutsamen Seitenblick auf Melisande. Sie konnte an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass der Pfeil getroffen hatte. Er konnte ja wohl nicht annehmen, dass Melisandes Interesse an ihm rein altruistischer Natur war.
India kannte die Schauspielerin nun schon seit einigen Jahren, und Melisande machte absolut kein Geheimnis daraus, dass sie von ihren Begleitern neben äußeren Attributen durchaus auch genügend Reichtum verlangte, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
India betrachtete sie gedankenverloren und war sich dabei des unterschiedlichen Bildes bewusst, das sie beide abgaben. Melisande war klein und sehr zierlich, mit hellem, silbrig glänzendem Haar und betont weiblichen Formen – der Prototyp eines zarten, anschmiegsamen Frauchens, während sie selber … Sie zog unwillkürlich ihre Nase kraus. Sie war für eine Frau sehr groß, ihr dichtes Haar leuchtete in einem dunklen, intensiven Rot, ihre grünen Augen saßen ein wenig schräg unter zwei hochgewölbten Brauen, und nur ihr verletzlich wirkender weicher Mund verriet,