1. KAPITEL
„Kommt er?“
„Wer soll kommen?“
Shay ließ das Messer sinken, mit dem sie die Glasur auf die Torte zum vierzigsten Hochzeitstag ihrer Eltern strich, und blickte ihren älteren Bruder Kent an. „Du weißt, wer.“
„Caleb“, sagte er und fischte in der Schüssel neben der Torte nach einer Erdbeere.
Shay schlug ihm auf die Finger. „Nichts essen, bevor die Gäste angekommen sind! Und von wem sonst sollte ich wohl reden? Natürlich frage ich nach Caleb.“ Allein der Klang seines Namens verursachte ein Kribbeln in ihrem Bauch. „Also kommt er nun?“
Kent schnappte sich noch eine Erdbeere und biss davon ab. „Ja, das hat er vor. Warum sollte er nicht kommen? Schließlich ist heute Moms und Dads Hochzeitstag. Sie sind auch seine Eltern.“
„Er ist schon ein paar Monate nicht mehr bei der Army, und ich habe ihn noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Deshalb frage ich.“ Und weil sie ihn an ihrem achtzehnten Geburtstag vor zehn Jahren geküsst hatte. Seitdem waren sie einander kaum begegnet. „Innerhalb von zehn Jahren ist er überhaupt nur ein paar Mal nach Hause gekommen.“
Kent schnaubte. „Was erwartest du denn? Er war bei denSpecial Forces. Eine Eliteeinheit, über die er nicht einmal reden darf. Außerdem hast du ihn vielleicht nicht gesehen, seit er zu Hause ist, aber ich schon.“
„Weil du zu einem Fallschirmspringkurs unter seiner Leitung gegangen bist und dich aus einem Flugzeug gestürzt hast.“ Kent arbeitete als Handelsvertreter für eine führende Sportartikelfirma, und der Körper ihres Bruders war nicht zufällig athletisch und sonnengebräunt. Bei ihm drehte sich alles um Sport, je extremer desto besser. „Du bist zu ihm gegangen, Kent, er ist nicht zu dir gekommen.“
„Er versucht eben, sein Unternehmen in Gang zu bringen“, erklärte er. „Sei nicht so streng mit ihm. Das bedeutet nichts weiter. Seit du deine schicke Psychologie-Praxis aufgemacht hast, liest du immer viel zu viel in alles rein.“
„Ich will bloß nicht, dass Mom und Dad enttäuscht sind“, erwiderte sie. „Heute ist ein besonderer Tag.“
„Er wird da sein“, versicherte ihr Bruder. Die Türglocke läutete. „Das muss der Caterer sein.“ Er sah auf die Uhr. „Nicht eine Minute zu früh. Dreißig hungrige Leute, die auf unserem Garten herumstreunen, könnten unangenehm werden.“ Er wollte schon an die Tür gehen, überlegte es sich dann aber doch noch einmal anders und sagte: „Hör auf, dir Sorgen zu machen. Er wird kommen, und Mom und Dad werden einen wunderschönen Tag erleben.“
Sie nickte halbherzig. Kent musterte sie durchdringend, bis die Türglocke erneut läutete. Daraufhin kratzte er sich am Kinn und ging endlich. Er hatte den Verdacht, dass hinter ihrem Verhalten mehr steckte als schlichte Sorge um ihre Eltern, das hatte sie an seinem Blick erkannt. Wahrscheinlich würde er deswegen später Fragen stellen, die sie ihm ganz bestimmt nicht beantworten würde.
Shay schob sich das Haar hinter die Ohren und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie trug ein schlichtes Strandkleid über ihrem Badezeug. Da sie auf dem College Rettungsschwimmerin gewesen war, hatte ihre Mutter sie eingeteilt, ein Auge auf die vielen Kinder auf der Feier zu haben.
Caleb war früher auch bei den Rettungsschwimmern, dachte Shay. Immer wieder holte die Erinnerung an ihn sie ein. Gerade jetzt sah sie ihn in ihrer Vorstellung in der roten Badehose vor sich, seinen nackten Oberkörper mit den perfekt geformten Brustmuskeln. Sein hellbraunes Haar war mit hellen, von der Sonne gebleichten Strähnen durchzogen gewesen. In seinen grünen Augen schimmerten kleine bernsteingelbe Punkte, und er trug eine Trillerpfeife um den Hals. Sogar diese Pfeife sah sexy an ihm aus. Wie oft hatte sie sich geschworen, eines Tages in diese Trillerpfeife zu blasen? Das war wirklich albern.
Sie schüttelte den Kopf, entsetzt darüber, wie lächerlich deutlich sie sich zudem seine „Trillerpfeife“ ins Gedächtnis rufen konnte. Immerhin war es über zehn Jahre her, seit Caleb besagte rote Badehose getragen hatte. Oder wie leicht es ihr fiel, sich an den Moment zu erinnern, als sie die Lippen auf seinen Mund gepresst hatte, und wie wundervoll straff und geschmeidig er sich angefühlt hatte. Caleb hatte leise gestöhnt, und ihr w