1. KAPITEL
Warum regnete es nicht endlich? Dicke Wolken, dunkel und bedrohlich, verdeckten die heiße Julisonne. Donner grollte in der Ferne. Kein Blatt bewegte sich in der feuchten, drückenden Luft. Linnea Swanson stand auf ihrer Terrasse. Die wenigen Blumen, die sie gepflanzt hatte, waren von den Rehen abgeknabbert worden. Sie nahm es den Tieren nicht übel. Schließlich waren sie zuerst hier gewesen. Die Wohnanlage war in einem Waldgebiet hochgezogen worden.
Linnea hatte New York vor mehr als zwei Jahren verlassen und sich diese Zuflucht im Grünen gesucht, um hier Kraft zu sammeln. Das Leben war seit damals die Hölle für sie. Wann würde die Ungewissheit ein Ende haben?
Seufzend sah sie auf ihre Uhr. Es war bereits nach fünf. Noch vor dem Abendessen sollte sie die letzte Illustration für das Buch über die Medizin der griechischen Antike fertig machen. Es war ein sehr lukrativer Auftrag, und sie konnte das Honorar gebrauchen. Glücklicherweise hatte sie eine Möglichkeit gefunden, ihr künstlerisches Talent zu vermarkten, denn das Geld, das sie bei der Manhattan Bank angelegt hatte, war für einen anderen Zweck bestimmt, nicht für ihren Lebensunterhalt.
Doch egal, wie viel sie von diesem besonderen Konto eingesetzt hatte, ihre Suche war bislang erfolglos geblieben.
Ein Blitz. Sekunden später donnerte es. Linnea streckte die Hand aus. Immer noch keine Regentropfen. Nichts. Kopfschüttelnd ging sie zurück ins Haus. Sie war es so leid zu warten.
Talal Zohir fuhr mit seinem roten Cabrio vom Highway herunter. Misstrauisch musterte er den Himmel.
Auf Arabisch sagte er: „Ich muss das Dach schließen, sonst werden wir gleich nass.“
Das kleine Mädchen in dem Kindersitz neben ihm sah ihn verwirrt an, als er den Mechanismus in Gang setzte. Dann duckte es sich und beobachtete mit ängstlicher Faszination, wie das Verdeck sich schloss.
Talal nahm ihre Hand, und sie umklammerte seinen Zeigefinger. „Es ist alles in Ordnung“, versicherte er und lächelte die Kleine beruhigend an. „Ich bin bei dir.“ Sie erwiderte sein Lächeln nicht – er hatte sie noch nie lächeln sehen –, doch sie lockerte ihren Griff.
„Mama?“, fragte sie nach einer Weile.
„Gleich sind wir da“, versprach er ihr.
Sie steckte den Daumen in den Mund.
„Hab keine Angst“, sagte er. Arme Kleine. Yasmins Welt hatte sich im vergangenen Monat dramatisch verändert, und es war erstaunlich, wie sie das wegsteckte. Trotz der fremden Menschen und der ständig wechselnden fremden Umgebung hatte sie nicht ein einziges Mal geweint. In der kurzen Zeit, seit sie jetzt zusammen waren, hatte er Yasmin in sein Herz geschlossen.
Nicht, dass er von der Aufgabe begeistert gewesen war, die sein Großonkel ihm übertragen hatte. Ein altes Sprichwort in Kholi sagte:Ein kleines Haus kann hundert Freunde, aber ein großer Palast nicht zwei Feinde beherbergen. Es brachte nichts ein, den König zu verärgern, besonders dann, wenn man auch noch mit ihm verwandt war. Der König befahl, und man hatte zu gehorchen.
Als Gegenleistung wartete in Amerika ein ganz besonderes Geschenk auf ihn – in Nevada. Er beabsichtigte, seinen Auftrag hier in New York so schnell wie möglich zu erledigen, um dann sofort in den Westen zu fliegen.
Er bog nach links ab. Kurz darauf befand er sich in der Straße, die er suchte. Auf dem Stellplatz, der zu ihrer Wohnung gehörte, stand ein Wagen. Glück gehabt, dachte er. Sie ist zu Hause. Er hob das sich sträubende Mädchen aus dem Kindersitz. „Ich weiß, du bist müde. Komm, ich trage dich.“ Noch immer sprach er Arabisch.
Yasmin legte die Arme um seinen Nacken und schmiegte sich vertrauensvoll an ihn. In dem Moment wurde ihm klar, wie sehr er sie vermissen würde. Die dreijährige Yasmin erinnerte ihn an den kleinen Vogel, den er als Kind gerettet und nach Haus gebracht hatte. Trotz der Einwände seiner Großmutter hatte er ihn aufgezogen und tapfer die Tränen unterdrückt, als der Vogel schließlich davongeflogen war.
Er betätigte den Klingelknopf. Schritte näherten sich der Tür. Yasmin wand sich in seinen Armen. Er stellte sie auf den Boden, und sofort versteckte sie sich hinter ihm.
Linnea schaltete die Außenbeleuchtung ein und blickte erst durch ein kleines Fenster, bevor sie die Tür aufschloss. Als sie den gut aussehenden dunkelhaarigen Mann sah, schnappte sie nach Luft. Obwohl er ein sportliches Hemd mit offenem Kragen und eine Freizeithose trug und nicht das typische Gewand und die Kopfbedeckung der Moslems, wusste sie sofort, dass er Araber war. Gut aussehend – wie Malik. Hatte Malik ihn geschickt?
Misstrauisch legte sie die Kette vor und öffnete die T