1. KAPITEL
Die Telefone auf seinem Schreibtisch klingelten unablässig. Anton Pallis bedachte sie nur mit einem gereizten Blick. Jeder von Rang und Namen in der Finanzwelt wollte wissen, wie sich der Tod von Leander Kanellis auswirken würde.
Anton hatte die Leitung von Kanellis Intracom schon vor zwei Jahren übernommen – zumindest inoffiziell. Seit der alte Kanellis sich aus gesundheitlichen Gründen auf seine Privatinsel zurückgezogen hatte, besaß Anton den als sicher geltenden Führungsanspruch.
Zum Glück war noch nichts über Theos schwere Erkrankung herausgekommen. Sollte dies bekannt werden, würde das den Kanellis-Aktien nicht guttun. Deshalb hatte Anton das Gerücht nicht zerstreut, er sei Theos Erbe und seit seinem zehnten Lebensjahr für die Nachfolge auf dem Chefsessel gedrillt worden. In Wahrheit waren Theo und Anton nicht einmal verwandt. Der alte Kanellis hatte sich nur um Antons Ausbildung gekümmert und dessen Vermögen an der Pallis Group verwaltet, bis er alt genug war, das Ruder selbst zu übernehmen.
Anton erinnerte sich nur vage an Leander Kanellis. Mit achtzehn war der junge Mann vor einer arrangierten Ehe geflohen, und bis heute hatte man nichts mehr von ihm gehört. Und es waren auch nicht die Schlagzeilen über den Tod des armen Kerls, die für den Aufruhr an der Börse sorgten, sondern die Tatsache, dass der Mann eine Familie hinterlassen hatte: legitime Kanellis-Erben.
Anton nahm die Zeitung und betrachtete das Foto, das ein ehrgeiziger Jungreporter irgendwo ausgegraben hatte – so groß, dunkel und attraktiv wie Leander musste auch Theo in jungen Jahren ausgesehen haben.
Leander lachte glücklich in die Kamera. Er hielt zwei Frauen im Arm: beides hellhäutige Blondinen. Leanders Frau strahlte stille Schönheit aus. Kein Wunder, dass die Ehe über dreiundzwanzig Jahre allen Entbehrungen getrotzt hatte – verglichen mit dem, was sie hätten haben können, wenn Theo nicht …
Hier brach Anton den Gedankengang abrupt ab. Sein Magen verkrampfte sich mit einem bis dato unbekannten Gefühl –Schuld. Seit seinem zehnten Lebensjahr hatte er alles erhalten, was Theos enormer Reichtum bieten konnte, während diese Menschen hier auf dem Foto …
Wieder hielt er sich vom Grübeln ab. Noch war er nicht bereit, sich damit zu beschäftigen. Lieber dachte er über den glücklichen Gesichtsausdruck nach. Wenn es etwas gab, das Theos Sohn ihm offensichtlich vorausgehabt hatte, dann war es das Empfinden von Glück – es war in den Augen der drei Menschen auf dem Foto zu sehen.Glück hatte Anton nicht oft erfahren.
Er lenkte den Blick auf das Mädchen, das Leander an seine andere Seite drückte. Zoe Kanellis konnte auf diesem Foto nicht älter als sechzehn sein, aber alles deutete bereits darauf hin, dass sie eine Schönheit werden würde. Sie hatte das gleiche goldblonde Haar und die gleichen blauen Augen wie ihre Mutter.
Da war auch noch ein zweites Foto abgedruckt: Leanders jetzt zweiundzwanzigjährige Tochter, wie sie das Krankenhaus verließ und das jüngste Mitglied der Familie beschützend im Arm hielt. Entsetzen und Trauer hatten das Glück aus ihrem Blick vertrieben. Sie sah blass aus, dünn und mitgenommen.
Die Schlagzeile lautete:Zoe Kanellis holt ihren neugeborenen Bruder aus der Klinik.Die Zweiundzwanzigjährige war an der Universität in Manchester, als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. Leander Kanellis starb noch am Unfallort, seine Frau Laura lebte gerade lange genug, um das Baby zur Welt zu bringen. Die Tragödie ereignete sich …
Ein vorsichtiges Klopfen an seiner Tür ließ Anton aufblicken. Seine Sekretärin Ruby steckte den Kopf zur Tür herein. „Was ist?“, fragte er knapp.
„Entschuldigen Sie die Störung.“ Sie warf einen Blick auf die noch immer klingelnden Telefone. „Theo Kanellis ist in meiner Leitung und will unbedingt mit Ihnen sprechen.“
Anton unterdrückte einen Fluch, als er die Zeitung ablegte. Einen Moment lang überlegte er ernsthaft, ob er sich verleugnen lassen sollte.
„Stellen Sie ihn durch.“ Anton ging um den Schreibtisch herum, setzte sich wieder und wartete darauf, dass Ruby ihn mit Theo verband. Zum Teufel, er wusste genau, was jetzt kommen würde.
„Kalispera, Theo“, grüßte er nüchtern.
„Ich will den Jungen!“, donnerte Theo Kanellis’ Stimme ohne jegliche Einleitung in sein Ohr. „Anton, hol mir meinen Enkel her!“
„Ich wusste gar nicht, dass du eine Kanellis bist.“ Mit tellergroßen Augen starrte Susie auf das weltberühmte Logo von Kanellis Intracom auf dem Brief, den Zoe achtlos auf den Küchentisch geworfen ha