1. KAPITEL
In jeder Hand einen dampfenden Becher balancierend versuchte Neve sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen, wobei sie entschuldigend nach allen Seiten lächelte. Es gab keinen einzigen freien Sitzplatz mehr, und überall standen Gepäckstücke herum. Suchend blickte Neve umher, aber Hannah schien verschwunden zu sein. Zumindest war sie nicht mehr dort, wo Neve sie zurückgelassen hatte.
Mein Fehler, schoss es ihr durch den Kopf. „Bleib hier, bis ich wiederkomme!“, hatte sie Hannah gebeten, bevor sie sich selbst an der Bar anstellte.
Sie seufzte einmal tief auf.Du lernst auch nie.
Hannah reagierte auf jede Anordnung – oder das, was sie als eine solche empfand – damit, das genaue Gegenteil zu tun.Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, in den Ferien könnten wir zueinanderfinden? Diese Hoffnung kam Neve jetzt geradezu lächerlich vor.
Suchend sah sie sich um. Ihr Blick schweifte durch die schummrige Wirtsstube, in der sich ihre Leidensgenossen drängten – Menschen, die ebenso wie sie selbst vom Schneesturm überrascht in diesem abgelegenen Landgasthof gestrandet waren. Neve sah zum Fenster hinüber – hinter den bleigefassten Butzenscheiben tobte der Blizzard mit unverminderter Heftigkeit. Inzwischen war bereits der gesamte Verkehr im westlichen Landesteil lahmgelegt, und es sah nicht so aus, als würde sich der Himmel bald aufhellen.
Plötzlich blitzte in einiger Entfernung etwas auf, und Neve entdeckte den grellblau gesträhnten Haarschopf ihrer Stieftochter, die inzwischen auf einer Holzbank am Fenster saß.
Neve holte tief Luft und begann in Hannahs Richtung zu steuern – möglichst, ohne jemanden mit dem heißen Kakao zu verbrühen.
„Gut gemacht! Du hast tatsächlich noch einen Sitzplatz ergattert!“ Es schien ihr das Klügste zu sein, gar nicht auf die neue Provokation einzugehen. „Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.“ Neve stellte den Kakao auf dem Fensterbrett neben einer Schale mit blauen Hyazinthen ab und nahm die Wollmütze vom Kopf. Mit beiden Händen fuhr sie sich durch die rotbraunen Locken, die ihr nun ungebändigt über die Schultern fielen.
Das lodernde Kaminfeuer verbreitete eine angenehme Wärme im Raum. Erleichtert zog Neve die dicke Winterjacke aus. „Ich dachte mir, ein heißer Kakao könnte unsere Lebensgeister wieder wecken … mit einer Extraportion Sahne natürlich!“ Sogar in ihren eigenen Ohren klangen diese Worte künstlich und leicht gezwungen.
Offenbar empfand Hannah das genauso, denn sie bedachte Neve mit einem so verächtlichen Blick, wie ihn nur ein renitenter Teenager zustande brachte. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele Kalorien in so einer Tasse Kakao sind? Eigentlich müsstest du rund wie eine Kugel sein!“
Neve fragte sich, ob sie vielleicht besser miteinander auskämen, wenn sie zwanzig Pfund schwerer wäre.
Aber das würde sie sowieso nie erreichen. Sie konnte essen, was