1. KAPITEL
23. Dezember 1890, vier Uhr dreißig nachmittags
„Aufdringliche Besserwisser, diese albernen Weihnachtsgeister“, meinte Claire Halliday, als sie und ihre Freundinnen sich vom Tisch erhoben. „Scrooge tut mir wirklich leid. Ich meine, der Mann war nicht nur geizig, sondern auch entsetzlich unglücklich. Sein Leben war so fürchterlich leer und kalt. Und da kommen die Geister einfach so daher und erschrecken ihn regelrecht zu Tode.“
„Ich glaube, das war auch der Zweck der Übung“, sagte Fiona, die Besitzerin der Buchhandlung, mit einem trockenen Lächeln. „Sein Leben war so einsam und trostlos, dass eine Änderung auf üblichem Wege nicht geschehen konnte. Es brauchte schon etwas Übersinnliches, um Scrooge aufzuschrecken.“
„Nun“, sagte Claire mit listigem Lächeln. „Ich frage mich, wie man solche Geister zu sich nach Hause bestellen könnte.“
Lady Adelaide Kendall und Fiona MacPherson lachten. Die drei Damen trafen sich seit geraumer Zeit hier zu einem Tee und Plausch über ihre geliebten Bücher und wussten von Claires Problemen mit der Verwandtschaft.
„Wieder kein Weihnachtspunsch oder Weihnachtsbiskuit im Haus der Mayhews, Claire?“, fragte Adelaide, während sie in ihre Mäntel schlüpften.
Claire hielt beim Zuknöpfen inne. „Stephen starb genau letzte Woche vor vier Jahren. Jedes Jahr um diese Zeit ist es, als würde es wieder passieren. Seine Mutter weint und geistert im Salon herum wie eine verlorene Seele. Onkel Abner bleibt bis spät in der Fabrik und kommt mit verdrossener Miene nach Hause. Tante Eloise kramt das schwarze Garn hervor und häkelt zum zigsten Mal Trauerspitzen. Cousin Halbert schließt sich im Arbeitsraum ein, und Cousine Tillie setzt sich an das Spinett und spielt die erbärmlichsten Klagelieder.“
„Klingt schaurig“, sagte Adelaide mitfühlend.
„Und du?“, fragte Fiona. „Was tust du?“
Claire schüttelte die finsteren Gedanken ab und griff nach den in braunes Packpapier gewickelten Büchern, die sie gerade von Fiona erstanden hatte. „Ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück und lese. Dem Himmel sei Dank, dass du die Bücher gefunden hast, die ich haben wollte, Fiona. Ein Becher heißer Kakao und ein gutes Buch reichen mir. In wenigen Tagen ist Weihnachten vorbei. Vielleicht gehe ich am zweiten Weihnachtsfeiertag zur Fabrik und mache in Onkel Abners Büro ein wenig Ordnung und putze.“
„Putzen? Lieber Gott, sag mir bitte, dass du nicht ganz so verzweifelt bist“, warf Fiona in gespieltem Entsetzen ein und besah sich die mit dichtem Staub bedeckten Regale in ihrem Geschäft. „Ich kann dir ja für ein paar Tage eine Katze leihen, wenn du willst.“
Sie lachten und umarmten sich, und einige Minuten später war Claire auf dem Gehweg, schlug den Mantelkragen gegen die Kälte hoch und ging mit langen Schritten auf die Haltestelle des Dampfomnibusses zu. Das Wetter verschlechterte sich merklich. Der leichte Regen nahm zu und verwandelte sich schließlich in eisigen Graupel. Na, wunderbar, dachte Claire und blickte bedrückt zum bleigrauen Himmel empor. Er passte großartig zu den düsteren Erwartungen, die sie für den bevorstehenden Abend hegte.
Das Bücherpaket fest an sich drückend, klammerte Claire sich an die wohltuende Erinnerung des gemütlichen, warmen Nachmittags und versuchte so gut es ging, die zunehmend frostige Kälte abzuwehren. Doch als sie den Omnibus erreicht hatte, der sie bis nach Breton Cross, ein Dorf am Rande Londons, bringen würde, war ihr bereits ganz kalt. Auf dem Weg von der Endhaltestelle bis zu ihrem Haus würde ihr die Kälte wahrscheinlich bis in die Knochen kriechen.
Dieser Gedanke beschäftigte sie noch, während sie einstieg, das Fahrgeld zahlte und sich hinsetzte. Ihr Haus gehörte eigentlich gar nicht ihr, sondern den Mayhews. Das Haus, das Vermögen und – so sehr es sie schmerzte, es zuzugeben – auch die Trauer gehörten eher ihnen als ihr. Claire war Waise und stammte aus einer guten Familie, die mit den Mayhews geschäftli