1. KAPITEL
Aufgelöst fuhr Harriet Carmichael in ihrem Hotelbett in Manchester hoch. In dem eigentümlichen Zustand zwischen Schlafen und Wachen war ihr eine erschreckende Tatsache bewusst geworden: Ihr Leben entsprach ganz und gar nicht dem Bild, das sie sich stets erträumt hatte.
Diese Erkenntnis war beklemmend – doch Harriet beschloss, die negativen Gedanken zu verdrängen und sich nicht ängstigen zu lassen.
Bereits sehr früh hatte sie von ihrem Stiefvater gelernt, für das dankbar zu sein, was sie besaß. Es machte einfach keinen Sinn, sich nach etwas zu sehnen, was sie nicht haben konnte. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie diese bittere Lektion gelernt, als ihre extravagante Mutter sie an ihrem siebten Geburtstag wieder einmal versetzt hatte. Um die ständigen Verletzungen nicht mehr spüren zu müssen, gewöhnte sich Harriet deshalb an, nur die positiven Seiten ihres Daseins wahrzunehmen. So beschützte sie sich selbst.
Negative Gedanken vertrieb sie mit einer Art Mantra, indem sie im Stillen immer wieder aufzählte, wofür sie dankbar sein musste. Seit einiger Zeit war das ihr Verlobter Luke, der sich trotz ihrer Unvollkommenheit in sie verliebt hatte. Und dann gab es noch ihre wundervolle Familie. Außerdem hatte sie einen großartigen Job, der ihr so viel Geld einbrachte, dass Luke schließlich ganz von sich aus das Thema Heirat anschnitt.
Jetzt spielte ein strahlendes Lächeln um Harriets volle, weiche Lippen. Umflutet von einer Woge positiver Empfindungen, griff sie nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher an.
„Angesichts der neuerlich sinkenden Aktienkurse sorgt Rafael Cavalieres Ankunft in London für Unruhe an der Börse.“
Harriet fuhr in ihrem Bett hoch und musterte mit leicht zusammengekniffenen Augen die attraktive Erscheinung des italienischen Finanztycoons. Wie gewöhnlich hatte er seine Mitarbeiter und Bodyguards um sich. Gleichzeitig versuchte eine Horde von aufdringlichen Paparazzi, seine Aufmerksamkeit zu erregen, um gute Fotos schießen zu können. Inmitten dieses Pulks bewegte sich Cavaliere ruhig und unbeeindruckt stetig vorwärts.
Der unerschütterliche Eisblock, dachte Harriet bitter. Obwohl erst Mitte dreißig, vermittelte Rafael Cavaliere den Eindruck eines selbstsicheren und seiner Macht bewussten Geschäftsmannes. Ganz offensichtlich schien er sich auf dem gefährlichen und schlüpfrigen Parkett des internationalen Finanzwesens vollkommen heimisch zu fühlen. Sein ungeheurer Reichtum und das Gespür für lukrative Investitionen gingen einher mit einer gewissen Skrupellosigkeit.
Das markante dunkle Gesicht wirkte wie aus Granit gemeißelt und gab nicht die leiseste Regung preis.
Harriet fühlte, wie ein kalter Schauer über ihren Rücken lief. Mit einer ungeduldigen Handbewegung strich sie die dichten roten Locken aus der Stirn. Auf ihrem blassen, herzförmigen Gesicht lag ein missbilligender Ausdruck.
Zehn Jahre war es her, seit Rafael Cavaliere den Pharmakonzern übernommen hatte, in dem ihr Stiefvater arbeitete. Jeglichen aktiven Kapitals beraubt, ging die bereits kränkelnde Firma damals in Konkurs. Danach prägten Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit das Bild von Harriets Heimatstadt und zerstörten mehr als eine glückliche Familie.
Harriet verachtete aus tiefstem Herzen alles, wofür Rafael Cavaliere stand. Er baute nichts auf, sondern zerstörte nur. Und das auch noch im Namen des Fortschritts und des wirtschaftlichen Wachstums! Dabei ging es ihm ausschließlich um Macht und Profit!
Zu jener Zeit war Harriet ein typisches Mädchen vom Lande gewesen. Glücklich, wenn sie in der örtlichen Reitschule jobben konnte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als irgendwann in ferner Zukunft mit Pferden arbeiten zu können. Deshalb war sie auch dementsprechend aufgeregt, als sie vor zwei Monaten unerwartet in den Besitz eines ganz besonderen Erbes kam. Eine Verwandte mütterlicherseits, die sie nie kennengelernt hatte, hinterließ ihr überraschend einen kleinen Pferdehof an der W