1. KAPITEL
Seit vielen Wochen lächelte Hannah zum ersten Mal wieder. Sie betrachtete den Mond. Er stand mitten am Nachthimmel und spiegelte sich im Fenster der letzten Wand, die von der alten Kirchenruine noch geblieben war. Von ihrem Platz auf der alten Steinbank aus sah sie wie gebannt den strahlenden Mond an, der von dem gewölbten Rund der Fensteröffnung umrahmt wurde.
Das Schauspiel war auch deshalb so einzigartig, weil es in diesem Monat bereits der zweite Vollmond war. „Ein blauer Mond“, flüsterte sie und fragte sich, wie viele Menschen außer ihr noch Zeugen dieses beeindruckenden Anblicks sein mochten. Sie lächelte versonnen.
Die Besitzerin des Landgasthofs hatte ihr den Tipp gegeben, hierherzukommen. Der Garten voller Wildblumen strahlte Ruhe und Frieden aus, und der Mond verlieh dem Ganzen einen Hauch von Magie. Einen kurzen Moment lang traten ihre Sorgen in den Hintergrund, und sie spürte, wie ihr leichter ums Herz wurde. Wenigstens war sie nicht mehr so niedergeschlagen wie vor einem Monat, als sie ihren Job gekündigt hatte.
Hannah stieß einen tiefen Seufzer aus. Wie hätte sie sich auch sonst fühlen sollen, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie im Büro eine Witzfigur war?
Wie hatte sie nur zulassen können, dass Milo Brisco aus ihr eine Marionette machte? Weil sie sich in den glatten, redegewandten Anwalt verliebt hatte, hatte sie sich von ihm überreden lassen, sich ihr dunkelblondes Haar platinblond zu färben, um mehr wie Marilyn Monroe auszusehen. Nicht nur das, sie opferte ihrer neuen Frisur auch ihre Locken und brauchte morgens Stunden für den modernen Look. Außerdem hatte er sie noch dazu überredet, ihre eher dezente Bürokleidung gegen Sachen auszutauschen, die trendy und sexy waren, und dieer ausgesucht hatte.
Wie hatte sie nur so schwach sein können und sich von ihm manipulieren lassen? Hatte sie nicht mehr Rückgrat? Offensichtlich nicht.
Nachdem ihre Eltern vor zwei Jahren geschieden worden waren, hatte Hannah alles darangesetzt, eine unabhängige moderne Frau zu werden, die keinen Mann brauchte, um zu überleben. Nach der hässlichen Trennung ihrer Eltern hatte sie sich geschworen, nie in eine so schreckliche Lage zu kommen wie ihre Mutter. Dorothy Hudson war allein, depressiv und musste sich ihren Lebensunterhalt als Küchenhilfe bei McDonald’s verdienen.
Andererseits hatte sie auch nicht vor, zu einem passiven, klammernden Püppchen zu werden wie Cindy, die letzte Eroberung ihres Vaters. Cindy war gerade mal zwanzig und damitsechs Jahre jünger als sie.
Um ja nicht so zu werden wie diese beiden Frauen, hatte Hannah alles darangesetzt, sich eine solide Karriere aufzubauen. Doch dann hatte sie sich vor vier Monaten ausgerechnet in Milo Brisco verliebt. „In diesen egomanischen Mistkerl“, flüsterte sie.
Der erste Schlag war gewesen, dass sie ihn zufällig im Büro prahlen hörte, wie „genial“ er sie umgewandelt hätte. Sie hielt sich die Ohren zu, als könnte sie so den Klang seiner Stimme auslöschen. Aber sie wusste, es würde ihr niemals gelingen, den verächtlichen Ton zu vergessen, in dem er gesagt hatte: „Roth und ich haben uns totgelacht. Es war ein Kinderspiel für mich, eine mittelmäßige Managerin in eine Zuckerpuppe zu verwandeln.“
Zuckerpuppe! Sie zuckte zusammen. Hatte man je etwas Sexistischeres aus dem Mund eines Mannes vernommen?
Das war ja schon schlimm genug, aber der zweite, viel schlimmere Schlag war das andere Wort gewesen –mittelmäßig. Diese gemeine Beschreibung brach ihr jedes Mal das Herz, wenn sie daran dachte. Hannah hatte i