2. KAPITEL
Liliana erwachte mit einem stummen Schrei auf den Lippen. Ihr Mund fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft, und in ihrem Kopf empfand sie nichts als die kalte Endgültigkeit des Todes. Sie brauchte einige Zeit, um zu merken, dass die Tür zu ihrer Zelle offen stand. Bard sah sie mit seinen großen, traurigen schwarzen Augen an.
„Hallo“, sagte sie, und ihre Stimme klang angespannt durch die Nachwirkungen ihres Albtraums.
Er winkte sie zu sich.
Sie stand auf und bereitete sich darauf vor, ein Schwindelgefühl niederzukämpfen, aber ihr Körper blieb aufrecht. Erleichtert trat sie hinaus und folgte Bards behäbigen Schritten durch den schwach beleuchteten Gang, bis er vor einer weiteren schmalen Tür stehen blieb. Als er nichts weiter tat, öffnete sie die Tür und merkte, wie ihre Wangen sich röteten. „Ich brauche nur einen Augenblick.“
Sie erledigte ihr Geschäft und benutzte den Spiegel aus schwarzem Glas, um sich selbst, so gut es ging, herzurichten – sie konnte nichts gegen ihre Hakennase machen oder die Augen wie schmutziges Eis, die in der honigbraunen Haut ihrer Mutter so aussahen, oder ihre strohigen, zottigen schwarzen Haare, und schon gar nichts gegen den riesigen Mund mit den schmalen Lippen, der wie ein Schnitt im Gesicht aussah, aber sie konnte sich wenigstens das Haar aus dem Gesicht streichen und hinter die Ohren stecken, und sie konnte sich das Blut von den Handgelenken waschen.
„Also gut“, sagte sie zu sich selbst. „Jetzt bist du hier. Du musst tun, wozu du hergekommen bist.“ Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie.
Während ihrer Kindheit hatte sie von den Sklaven ihres Vaters immer wieder geflüsterte Gerüchte über die vier Königskinder gehört, die wahren Erben des Juwels, das Elden einst gewesen war. Die Hoffnung in ihren wispernden Stimmen hatte auch in Liliana Hoffnung genährt und in ihr Träume von einer Zukunft geweckt, in der nicht die scharfe und beißende Angst ihr ständiger Begleiter war.
Und dann, vor einem Monat, hatte ein immer stärker werdendes Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, sie in den Toten Wald mit seinem eitrigen Gestank und den kratzenden Zweigen getrieben. Sie wollte dort eine Vision herbeirufen, wie ihr Vater es nicht konnte, weil sein Blut zu verdorben war. Und dort hatte sie gesehen, was die Zukunft bringen würde.
Die Erben von Elden würden zurückkehren.
Alle … bis auf einen.
Der Wächter des Abgrundes würde an diesem schicksalhaften Tag nicht bei ihnen sein. Und ohne ihn bliebe der vierseitige Schlüssel der Macht unvollständig. Seine Brüder und seine Schwester würden gemeinsam mit ihren Partnern aus voller Kraft und ganzem Herzen kämpfen, um ihren Vater zu besiegen, aber sie würden verlieren, und Elden wäre für immer an die Bosheit des Blutmagiers verloren. Und so schrecklich das auch war, es war noch nicht das Schlimmste.
In dem Augenblick, in dem König und Königin – das Blut von Elden – ihren letzten Atemzug ausgehaucht hatten, hatte Elden begonnen, einen langsamen Tod zu sterben. Dieser Tod wäre vollkommen, wenn die Uhr am zwanzigsten Jahrestag der Invasion ihres Vaters Mitternacht schlug. Das wäre nicht so schrec