1. KAPITEL
Sie träumte von der Wüste.
Von Dünen, die sich in der flimmernden Hitze Rotgold färbten, und vom Persischen Golf, dessen klares blaues Wasser sich über weiche Sandstrände ergoss. Sie träumte von majestätischen Bergen. Von einem Pool, auf den Palmen zarte Schatten warfen. Und sie träumte von einem Prinzen – einem mächtigen Prinzen, dessen Augen dunkel wie die Nacht waren.
„Avery!“ Er rief ihren Namen, doch sie ging weiter und schaute nicht zurück. Der Boden unter ihren Füßen gab nach. Sie fiel tiefer und tiefer …
„Avery, wach auf!“
Langsam verzogen sich die Wolken, mit denen der Schlaf sie umgeben hatte. Die Stimme passte nicht zum Bild in ihrem Kopf. Sie klang nicht tief und männlich, sondern weiblich und sehr fröhlich.
„Mm?“, murmelte Avery.
Kaffeeduft stieg ihr in die Nase. Benommen setzte sie sich auf und entdeckte die Tasse auf ihrem Tisch. „Wie spät ist es?“
„Sieben. Du hast gestöhnt. Muss ja ein toller Traum gewesen sein.“
Avery strich sich die langen Haare aus dem Gesicht. Sie träumte jede Nacht dasselbe. Zum Glück befand sie sich nach dem Aufwachen nicht in der Wüste, sondern in London. Draußen verkündeten Taxihupen schrill den Start des Berufsverkehrs. Hier gab es weder Berge noch schattige Oasen – bloß Jenny, ihre beste Freundin und Geschäftspartnerin, die jetzt gerade einen Knopf drückte, um die Jalousie hochzufahren.
Durch die Fensterscheiben fiel Sonnenlicht in das exklusive Büro. Avery war erleichtert, wach zu sein und festzustellen, dass der Boden unter ihren Füßen fest und sicher war. Sie hatte also doch nicht alles verloren. Das hier gehörte ihr, und sie hatte wahrhaftig hart dafür gearbeitet. „Vor unserer Besprechung gehe ich noch schnell duschen.“
„Als du die Couch für dein Büro bestellt hast, wusste ich nicht, dass du darauf übernachten willst.“ Jenny deponierte ihre Kaffeetasse auf Averys Schreibtisch und schlüpfte aus den Pumps. „Falls du es nicht wissen solltest: Normale Menschen gehen am Ende des Arbeitstages nach Hause.“
Der verstörende Traum haftete an Avery wie ein Spinnennetz. Sie war irritiert, weil er sie so stark berührte. Nicht der Traum ist mein Leben, sondern dies hier, rief sie sich zur Ordnung.
Barfuß schlenderte sie durch das Büro und schaute sich ihre Wirklichkeit an. Durch die langen Fenster glitzerte die Stadt im Sonnenschein. Dunst lag über der Themse wie ein feiner Brautschleier. Vertraute Londoner Wahrzeichen ragten auf, während zu ihren Füßen winzige Figuren auf den Bürgersteigen entlangeilten und Autos sich auf den Straßen stauten, die im Zickzackmuster um Averys Büro verliefen.
Ihre Augen brannten vor Schlafmangel. Das kannte sie inzwischen, denn die Ruhelosigkeit begleitete sie seit Monaten – genau wie die Leere in ihrem Herzen.
Jenny musterte ihre Freundin. „Willst du drüber reden?“
„Es gibt nichts zu reden.“ Avery wandte sich vom Fenster ab und setzte sich an ihren Schreibtisch. Arbeit, dachte sie. Arbeit war alles für mich, bis das Chaos über mich hereingebrochen ist. Irgendwie muss ich das Gefühl von früher wiederfinden. „Gute Nachrichten“, kam sie zur Sache. „Ich habe das Angebot für unser Projekt in Hongkong ausgearbeitet. Die Party wirddas Gesprächsthema sein.“
„Das sind deine Partys doch immer.“
Averys Handy klingelte. Sie streckte die linke Hand danach aus, doch als sie den Namen auf dem Display las, hielt sie inne. Schon wieder, dachte sie bestürzt. Das ist mindestens sein fünfter Anruf. Ich kann nicht drangehen. Nicht so kurz nach dem Traum.
Sie ignorierte das Telefon und schaltete stattdessen den Computer ein. Ihr Herz klopfte, als würde eine Herde Wildpferde hindurchgaloppieren. In die Panik mischte sich Schmerz. Schmerz darüber, dass er sie absichtlich derart verletzt hatte.
„Das ist deine Privatnummer. Warum gehst du nicht ran?“ Jenny spähte auf die Anzeige und zog die Augenbrauen hoch. „Malik? Der Prinz ruft dich an?“
„Offensichtlich.“ Avery rief die Tabelle auf, die sie bearbeiten wollte. Ärgerlich registrierte sie, dass ihre Fingerspitzen bebten.Er hat kein Recht, mich privat anzurufen. Ich hätte meine Nummer ändern sollen. Sicherstellen, dass er mich nur noch über das Büro