1. Kapitel
Die Brandung umspülte Charlottes Füße, während sie zu den Sternen hinaufschaute. Sie konnte einfach nicht fassen, dass es auf der winzigen griechischen Insel Iskos zu so später Stunde noch immer so warm war. Der Sand unter ihren Füßen fühlte sich fest und kühl an. Endlich war der Moment gekommen, auf den sie gewartet hatte. Sie holte weit aus und schleuderte den schmalen Goldreif ins Meer hinaus. Ihre Ehe mit einem reichen Mann war gescheitert, und der Ring war das letzte Symbol aus dieser Zeit.
Mit geschlossenen Augen malte sie sich aus, wie er auf den Meeresboden sank, und während er fiel, hoben sich ihre Lebensgeister, bis grenzenlose Erleichterung sie durchflutete. Sie setzte sich in den Sand, zog die Beine an und machte eine Bestandsaufnahme. Die Welt hatte sich erfreulicherweise nicht verändert, aber immerhin fühlte sie selbst sich wie verwandelt – sie war frei. So musste sich ein Schmetterling fühlen, wenn er zum ersten Mal die Flügel ausbreitete.
Sie stützte sich auf die Ellbogen und erblickte unter all den funkelnden Punkten am Himmel das Sternbild Pegasus. Ihr erschien es wie ein Zeichen. Die Scheidung lag hinter ihr. Ihr Leben würde neu beginnen.
Charlotte dachte an die Zukunft. Manche Dinge würde sie nicht ändern. Sie war eine renommierte Gesellschaftsjournalistin – reiselustig und Besitzerin eines Laptops – und konnte, dank des Internets, überall leben. Vielleicht würde sie an einen neuen, aufregenden Ort ziehen, vielleicht auf eine Insel wie diese? Zuvor musste jedoch noch einiges passieren, beispielsweise musste ihre Lebensfreude zurückkehren. Sie war nun schon fast einen Monat auf der Insel und nicht ein einziges Mal abends ausgegangen. Dabei hatte die Reise nach Griechenland sowohl ihr Selbstbewusstsein heben als auch ihre Karriere fördern sollen. Bislang hatte der Szenenwechsel nicht geholfen. Die zum Schreiben dringend nötige Inspiration war ausgeblieben, und ihr Selbstbewusstsein tendierte nach wie vor gegen null.
Sie dachte an die verführerischen Kleider, die unbeachtet in ihrem Koffer lagen. Es waren traumhafte Designerstücke, ein kleines Geschenk des Magazins, für das sie arbeitete – aber sie hatten einen Preis. Als ihre Chefredakteurin verlangt hatte:"Finden Sie einen atemberaubenden Griechen, und schreiben Sie über ihn", war es tatsächlich nur eine andere Formulierung gewesen für: Bring einen reißerischen Reisebericht zurück, um damit deine Karriere aufzupäppeln, die durch deine Scheidung schwer gelitten hat. Das Problem war einzig, dass atemberaubende Griechen auf Iskos offenbar Mangelware waren.
Charlotte ließ den Blick über die Klippen schweifen, an denen sich das Wasser brach und dann durch die stille Bucht wieder hinaus ins Meer strömte. In der Taverne am Ufer brannten die Lichter, und gelegentlich hallte ein Ruf oder Gelächter von den Felsen wider und ermahnte sie, dass es Zeit zum Gehen war.
Sie erhob sich und klopfte sich den Sand von den Sachen, hielt jedoch inne, als ein anderer Laut herüberdrang. Es dauerte einen Moment, bis sie gleichmäßige Ruderschläge identifizierte.
Bei genauerem Hinsehen erkannte sie die Laterne am Bug des kleinen Bootes. Die Dunkelheit hatte alle Farben geschluckt, doch dank der Lampe konnte Charlotte die Silhouette eines Mannes ausmachen. Seine Bewegungen waren kraftvoll und ruhig, so als würde er sich am Mond und den Sternen orientieren, um sein Ziel zu erreichen.
Der Anblick des Ruderers übte eine seltsam hypnotische Wirkung auf sie aus. Er vermittelte ihr den Eindruck von Stärke. Lächelnd ließ Charlotte ihrer Fantasie freien Lauf. Sie war auf der Insel zahllosen drahtigen, robusten Fischern begegnet, doch der Instinkt sagte ihr, dass dieser Mann sich von ihnen unterschied. Er war muskulös, aber anmutig wie ein Tiger … geschmeidig und gefährlich energiegeladen. Sie versuchte, seinem Schattenriss Tiefe und Charakter zu verleihen – und plötzlich verspürte sie den Drang, alles niederzuschreiben.
Rasch streifte Charlotte ihre Sandaletten über. Der Kern des Artikels hatte sich ihr noch nicht eröffnet, aber er hatte mit dem Mann im Boot zu tun, dessen war sie sicher. Je mehr sie sich dem steilen