1. KAPITEL
„… besteht die Möglichkeit, dass sie noch lebt.“
Adan blickte von den Papieren auf, die man ihm zum Unterzeichnen vorgelegt hatte. Er hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Denn seit dem Tod seines Onkels vor einer Woche war im Hinblick auf Adans Krönung derart viel zu tun, dass er häufig so viele Dinge wie möglich gleichzeitig erledigte.
„Sagen Sie das noch mal.“ Plötzlich schien sein ganzer Körper in Alarmbereitschaft zu sein.
Der Mann zitterte leicht, als Adan ihn durchdringend ansah. Dann senkte er den Kopf und antwortete: „Verzeihen Sie mir, Hoheit. Ich sagte, dass wir zur Vorbereitung auf Ihre anstehende Vermählung mit Jasmin Shadi alle Berichte prüfen müssen, die uns in Bezug auf Ihre verstorbene Ehegattin erreichen. Denn ihre Leiche wurde ja nie gefunden.“
„Weil sie in die Wüste gegangen ist, Hakim“, erwiderte Adan nachsichtig, insgeheim jedoch leicht verärgert. „Isabella liegt tief unter dem Wüstensand begraben.“
Mit Isabella war zwar seine Ehefrau verschwunden, doch ihre Ehe war eine arrangierte Vernunftehe gewesen. Und so schmerzte Adan vor allem der Gedanke an seinen Sohn Rafik, der seine Mutter verloren hatte.
Isabella Maro war wunderschön gewesen, in jeder anderen Hinsicht aber nicht sonderlich bemerkenswert. Eine stille, liebe Frau, die die ihr auferlegten Pflichten tadellos erfüllt hatte und sicher eine sehr gute Königin geworden wäre – wenn auch, wie gesagt, eine unscheinbare. Isabella war zwar halb Amerikanerin gewesen, aber nach jahfarischen Traditionen und Werten aufgezogen werden. Als Adan sie kurz vor der Hochzeit kennengelernt und gefragt hatte, was sie sich im Leben am meisten wünsche, hatte ihre Antwort gelautet: „Was immer du dir wünschst.“
„Uns ist berichtet worden, dass sie gesehen wurde, Hoheit.“
Adan verkrampfte die Finger um den Federhalter, mit dem er die Papiere unterzeichnet hatte. Die andere Hand presste er flach auf den Tisch. Er hatte das Gefühl, sich an etwas Stabilem festhalten zu müssen. Denn um die Thronfolge anzutreten, brauchte er eine Ehefrau – und das würde Jasmin Shadi sein, die er in zwei Wochen heiraten sollte. Für ein Phantom war jetzt wirklich kein Platz in seinem Leben.
„Sie wurdegesehen?“
Hakim schluckte. Seine Haut glänzte leicht, obwohl die Klimaanlage im Palast ausgezeichnet funktionierte.
„Sharif Al Omar, ein geschäftlicher Konkurrent von Hassan Maro, ist kürzlich von einer Reise auf die Insel Maui zurückgekehrt und berichtete von einer Sängerin, die er dort in einer Bar gesehen hat. Sie hieß Bella Tyler und ähnelte Ihrer verstorbenen Frau, Hoheit.“
„EineSängerin in einerBar?“ Adan sah Hakim ungläubig an, dann lachte er schallend. Isabella war also in die Wüste hinein- und dann wieder hinausspaziert und sang jetzt in einer Bar auf einer hawaiianischen Insel? Das war einfach absurd! Der Wüste von Jahfar war noch niemand lebend entkommen, der sich nicht gut auf sie vorbereitet hatte. Und Isabella war einfach so hineingegangen, mitten in der Nacht. Ein Sandsturm am folgenden Tag hatte jegliche Spuren verwischt, und so hatten sie mehrere Wochen vergeblich nach ihr gesucht.
„Mr Al Omar sollte dringend einen Arzt aufsuchen“, erwiderte Adan deshalb. „Offenbar brennt die Sonne auf Hawaii noch unbarmherziger als in Jahfar.“
„Er hat ein Foto gemacht, Sir.“ Hakim reichte dem Sekretär Mahmud eine Mappe, die dieser Adan vorlegte.
Adan zögerte einen Moment, dann schlug er die Mappe auf – und betrachtete das Foto so lang, bis es vor seinen Augen zu verschwimmen schien. Die Frau auf dem Bild konnte nicht Isabella sein, und doch …
„Sagen Sie meine sämtlichen Termine der nächsten drei Tage ab“, brachte er schließlich heraus. „Und geben Sie am Flughafen Bescheid, dass mein Flugzeug startklar gemacht werden soll.“
An diesem Abend war in der Bar ziemlich viel los. Touristen und Einheimische drängten sich im Innern und hinaus auf den Strand. Als Isabella auf die Bühne trat, begann die Sonne gerade unterzugehen und verlieh dem Himmel einen intensiven Goldton. Schon kurze Zeit später war sie im Meer versunken, der Himmel glühte rosa, und hoch oben über dem Wasser sah man einige lila angehauchte Wolken.
Es war ein wunderschöner Anblick, der Isabellas Herz wie immer schmerzlich berührte. Sie hatte sich an diese Melancholie gewöhnt, deren Ursprung sie nicht kannte. Oft war es, als würde ein Teil von ihr fehlen – doch welcher Teil das war, konnte sie nicht sagen. Diese Leere konnte sie, zumindest vorübergehend, mit Singen füllen.
Isabella ließ den Blick über die wachsende Anzahl Menschen schweifen, die ihretwegen hier waren. Sie schloss die Augen, begann zu singen und gab sich ganz der Musik hin. Auf der Bühne war sie Bella Tyler, die selbst über sich und ihr Leben bestimmte. Im Gegensatz zu Isabella Maro.
Während sie von einem Lied zum nächsten glitt, schmiegte sich ihre Stimme liebevoll an die gesungenen Worte. Unter dem Scheinwerferlic