1. KAPITEL
Die leichte Brise, die über den schattigen Balkon strich, brachte den Duft von Orangenblüten und Bougainvillea mit sich. Miss Sophia Langford atmete ihn tief ein. Er war so viel angenehmer als die von der Straße heraufsteigenden Gerüche. Sie ließ den Blick über die roten Dächer der Stadt und über das in der Ferne im Sonnenlicht glitzernde Wasser des Golfs von Neapel gleiten. Aber in Gedanken war sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sie befand sich in einer beinahe ausweglosen Situation. Was, um Himmels willen, sollte sie tun? Vor Kurzem war ihr Vater ihrer Mutter ins Grab gefolgt und hatte sie allein in einem fremden Land zurückgelassen. Sie zählte knapp einundzwanzig Jahre, hatte keine Freunde und auch keine Verwandten, die ihr zu Hilfe kommen würden. Und in wenigen Tagen war die Miete für das Haus fällig, das sie bewohnte.
Es klopfte. Doch Sophie war so in ihre trüben Gedanken vertieft, dass sie es nicht hörte.
Die Besucherin klopfte erneut. Nichts! Also öffnete sie die Tür und rief: „Sophie, meine Liebe, ich habe gute Neuigkeiten. Ja, wundervolle Neuigkeiten!“
Lady Myers war klein, rundlich und etwa vierzig Jahre alt. Sie trug ein leichtes Musselinkleid, das vom Stil her eher zu einer jungen Dame gepasst hätte. Auch konnte man deutlich erkennen, dass sie ihr Haar gefärbt hatte. Trotz dieser kleinen modischen Fehler machte sie einen sehr warmherzigen Eindruck. Ihre braunen Augen strahlten Lebensfreude und Mitgefühl aus. Um ihren Mund spielte ein leicht amüsiertes und gleichzeitig verständnisvolles Lächeln.
Sophie hob den Kopf und begriff im gleichen Moment, dass sie sich vorhin getäuscht hatte: Sie war nicht ohne Freunde. Lady Myers würde sie nicht im Stich lassen.
„Der Krieg ist vorbei“, teilte diese ihr strahlend mit. „Napoleon hat sich zuletzt doch geschlagen geben müssen. Paris ist von den Alliierten besetzt. Wir können endlich nach Hause.“
„Nach Hause …“, wiederholte Sophie leise. Wo war ihr Zuhause? Während der letzten zehn Jahre hatte sie in Italien, Frankreich, Österreich und der Schweiz gelebt. Frankreich hatte sie als ein Land voller Kontraste in Erinnerung, wofür vermutlich die Revolution verantwortlich war. Die Schweiz mit den wunderschönen Bergen und der klaren Luft hatte sie geliebt, vor allem, weil ihre Mutter sich dort wohlgefühlt hatte. Viel zu schnell hatten sie das Land wieder verlassen müssen. Natürlich hätte ihr Vater nie zugegeben, dass sie auf der Flucht waren. Aber es stimmte trotzdem: Wo auch immer er sich niederließ – nach einer Weile musste er vor seinen Gläubigern davonlaufen.
Sie unterdrückte einen Seufzer. Für Engländer war das Leben auf dem europäischen Festland verhältnismäßig günstig. Sie und ihre Eltern hätten ein bescheidenes, aber dabei doch recht bequemes Dasein führen können, wenn die Schwäche ihres Vaters nicht immer wieder zu neuen Katastrophen geführt hätte.
Von der Schweiz aus war man nach Österreich gereist, um eine Zeit lang in Wien zu wohnen. Sophie und ihre Mutter hatten die schönsten Ecken der Stadt erforscht, während ihr Vater sich mit anderen Engländern getroffen und sich erneut dem Glücksspiel hingegeben hatte. Stets hatte er behauptet, der große Gewinn könne