1. KAPITEL
Jetzt tauchte hinter der Landzunge von St. Valere die „Arkadia“ auf. Michelle erkannte das Schiff bereits an seinem Bug. Wie schön es war! Und wie elegant es das blaue Wasser des Mittelmeers durchpflügte.
In Michelles Bewunderung für die Jacht ihres Arbeitgebers mischte sich an diesem Vormittag Besorgnis. Vielleicht ging ihre Zeit als Haushälterin in der Villa „Jolie Fleur“ früher als gedacht zu Ende. Das wäre mehr als schade gewesen, denn Michelle empfand diesen Job als Glücksfall, schon allein deshalb, weil sie ihn nicht als wirkliche Arbeit ansah. Deshalb blickte sie der Ankunft des Besuchers mit unguten Gefühlen entgegen.
Ganz unerwartet hatte die Hausverwalterin sie gestern angerufen, um ihn anzukündigen. Die Frau, die sie nur über das Telefon kannte, hatte genervt geklungen. Einer der wichtigsten Gäste ihres Chefs fühle sich an Bord der „Arkadia“ nicht wohl. Michelle hatte sofort an Seekrankheit gedacht.
Doch wie sie gleich darauf erfahren hatte, ging es dem reichen Kunsthändler Alessandro Castiglione körperlich gut. Er konnte sich lediglich nicht mit dem Leben auf See arrangieren. Da er aber unbedingt ausspannen wollte, hatte ihr Arbeitgeber ihm für ein paar Wochen „Jolie Fleur“ als Feriendomizil angeboten.
Was das bedeutete, bedurfte keiner weiteren Erläuterung. Michelle kannte diese arbeitssüchtigen Männer, die mit ihrer Ungeduld die Angestellten verrückt machten. Dass die Hausverwalterin über das fantastische Aussehen des Millionärs ins Schwärmen geraten war, konnte sie kein bisschen trösten. Denn das war gewiss nicht der Grund seines Erfolgs. Er musste noch ganz andere, weniger angenehme Eigenschaften besitzen.
Michelle hatte in der Londoner Innenstadt Büros geputzt und dabei Einblick in die brutale Seite des Geschäftslebens gewonnen. Deshalb wunderte sie sich nicht über das, was sie noch von der Hausverwalterin über Castiglione wusste. Er hatte nach der Übernahme des Familienunternehmens nahezu alle Angestellten gefeuert: seine Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen.
Was war das für ein Mensch, der seine Verwandten hinauswarf? Nicht einmal ihre Mutter hatte so etwas fertiggebracht. Es war die Hölle gewesen, für sie zu arbeiten. Als Spicer und Co. hatten sie schnelle und diskrete Reinigung angeboten, was hieß, dass Mrs Spicer den Boss gespielt und ihrer Tochter die Dreckarbeit überlassen hatte. Das war nun endlich vorbei. Inzwischen arbeitete sie auf eigene Rechnung.
Michelle lachte bitter auf. Was für ein Regiment dieser Castiglione auch immer führte, schlimmer als das ihrer Mutter konnte es nicht sein. Für ernsthafte Besorgnis gab es also keinen Grund.
Zumal auf „Jolie Fleur“ alles perfekt vorbereitet war. Die Nachricht von Castigliones Ankunft hatte sie weder in Verlegenheit gebracht noch ihr viel zusätzliche Mühe bereitet, denn sie sorgte ohnehin ständig dafür, dass es auf dem Anwesen auch für anspruchsvolle Gäste nichts zu beanstanden gab. Der Vorrat an Grundnahrungsmitteln war aufgefüllt, auch der an Getränken. Weshalb also diese Nervosität? Der Mann konnte ihr doch gar nichts anhaben. Demnächst ging ihre Zeit hier ohnehin zu Ende. Außerdem wusste sie, dass sie gute Arbeit leistete. Wenn sie sich von ihm fernhielte, würde es ihm nicht gelingen, sie herumzuscheuchen.
Und wenn doch, wollte sie sich von ihm nicht vertreiben lassen. Immerhin hatte ihr bisheriges Leben sie gelehrt, anderen die Stirn zu bieten. Einschüchtern ließ sie sich nicht. Und seit sie es geschafft hatte, England den Rücken zu kehren, war sie geradezu neugierig darauf, was noch in ihr steckte.
Nun hob der Hubschrauber vom Deck der Jacht ab. Michelle schützte mit der Hand ihre Augen gegen die Sonne und verfolgte seinen Aufstieg in den strahlend blauen Himmel. Als er immer näher kam, verließ sie ihren Beobachtungsposten, lief zur Villa und warf einen letzten kritischen Blick durch die blinkenden Scheiben. Innen sah alles picobello aus, sauber und aufgeräumt. Das Zimmermädchen, ihre einzige Hilfe