1. KAPITEL
Normalerweise gehörte Maisie Wallis nicht zu den Menschen, die so leicht aufgaben, doch an diesem düsteren Tag, kurz nach ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, war sie nahe daran, es zu tun.
Sie war eine zierliche junge Frau mit roten Haaren und grünen Augen, die unter zwei verschiedenen Namen auftrat und damit zwei verschiedene Persönlichkeiten präsentierte. Ihr offizieller Name war Mairead, doch sie war immer nur Maisie gewesen, so lange sie zurückdenken konnte.
Als unauffällige Maisie Wallis unterrichtete sie Musik an einer Privatschule. Sie besaß noch keine besonders großen Erfahrungen als Lehrerin, doch sie hatte sich der Musik verschrieben, und sie liebte Kinder.
Als Mairead Wallis, mit wallender roter Lockenmähne, Bühnenmake-up und im glitzernden Outfit ging sie an den Wochenenden ihrem zweiten Job als Pianistin einer Band nach, die auf Partys der gehobeneren Gesellschaft spielte.
Im Herzen jedoch war sie immer dieselbe Person. Als einziges, von den Eltern zärtlich verhätscheltes Kind war sie ein zurückhaltender, etwas weltfremder Mensch, auch wenn sie als Mairead Wallis nicht unbedingt diesen Eindruck machte.
Doch vor sechs Monaten hatte sie die geliebten Eltern verloren, nun war sie ganz auf sich allein gestellt. Oder zumindest fast, berichtigte sie sich, als sie in das Taxi stieg. Ihr eigener Wagen war in der Werkstatt, da er plötzlich mysteriöse Klopfgeräusche von sich gegeben hatte.
Der Taxifahrer schien ihre Verzweiflung zu spüren. „Machen Sie nicht so ein Gesicht, junge Frau“, sagte er, als er sie vor ihrem Haus absetzte. „So schlimm kann es doch gar nicht sein.“
Maisie gab ihm das Fahrgeld und wollte gerade erwidern, dass es für sie kaum etwas Schlimmeres geben konnte, da fiel ihr Blick auf einen Mann mit einem weißen Stock und einem Blindenhund. Natürlich gibt es Schlimmeres im Leben, dachte sie beim Aussteigen.
Schluss mit den Tränen!, befahl sie sich dann. Stattdessen sollte sie lieber eine gesunde Wut entwickeln, und zwar auf Rafael Sanderson. Er mochte ein überspannter Multimillionär sein, der sich mit Outsidern nicht abgab, und ihre heutige Suche nach ihm mochte erfolglos verlaufen sein, doch sie hatte es weiß Gott nicht nötig, sich derartig behandeln zu lassen!
Das Haus, das Maisie von ihren Eltern geerbt hatte, war ein hübsches älteres Holzhaus im typischen Queensland-Stil. Es lag in Manly, einem Vorort von Brisbane, direkt am Meer. Lange lebte sie noch nicht hier. Ihr Vater war in der Armee gewesen, und sie waren viel umgezogen.
Während ihr Vater in Puckapunyal stationiert gewesen war, hatte Maisie in Melbourne Musik studiert. Nach seiner Pensionierung hatten ihre Eltern sich einen lang gehegten Traum erfüllt: ins sonnige Queensland ziehen und sich ein Haus und ein Boot kaufen.
Wegen der vielen Umzüge hatte Maisie nie engere Freundschaften schließen können. Auch in Brisbane lebte sie noch nicht lange genug, um wirklich gute Freunde gefunden zu haben, auf die man sich verlassen konnte.
Das Haus war in einem guten Zustand, und Maisie liebte den herrlichen Ausblick auf Moreton Bay und die beiden vorgelagerten Inseln Moreton und North Stradbroke.
Aber vor allem gefiel ihr der Garten, in dem sie stundenlang herumwerkeln konnte. Sie hatte den grünen Daumen ihrer Mutter geerbt, ebenso die Kochleidenschaft ihres Vaters.
Sie bereitete sich einen kleinen Imbiss zu und setzte sich damit auf die Veranda. Eigentlich wollte sie über eine neue Lösung ihres Problems nachdenken, doch dann blieb ihr Blick an den Bootsmasten im Hafen von Manly hängen. Einer dieser Masten gehörte zur „Amelie“, der Jacht ihrer Eltern, die noch immer in der Marina des Royal Queensland Yacht Squadron ankerte.
Verzaubert blickte Maisie auf das Wasser hinaus, auf das die untergehende Sonne ein atemberaubendes Farbenspiel warf. Der Anblick war so wunderschön, dass ihr die Tränen kamen.
Energisch wischte sie sich über die Augen. Was hatte sie sich im Taxi geschworen? Keine Tränen mehr! Irgendwie würde es ihr schon noch gelingen, Rafael Sanderson aufzuspüren.
Als Maisie später am Computer saß, musste sie wieder an ihre grenzenlose Überraschung denken, nachdem sie über das Internet herausgefunden hatte, dass Rafael Sanderson als Firmenchef von Sanderson Minerals und Erbe des Dixon Imperiums einer der reichsten Männer Australiens war.
Es kann sich unmöglich um denselben Mann handeln, war ihr erster Gedanke gewesen. Zwar schien derjenige, nach dem sie suchte, ebenfalls der geschäftlichen Elite anzugehören, und auch der Name Dixon passte, doch Sanderso