1. KAPITEL
„Tut mir leid, Ms. O’Rourke, Ihre Freundin kann leider nicht kommen. Sie hat versucht, Sie zu erreichen, aber Sie waren schon weg. Möchten Sie einen Tisch für eine Person?“
Mary Faith O’Rourke schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank, ich bleibe nicht“, sagte sie leise und verließ dasMimosa, ohne sich noch einmal umzusehen.
Sie hatte ohnehin keine Lust auf ein Mittagessen gehabt. In den vergangenen sechs Jahren hatte sie keinen Tag etwas anderes gewollt, als zu sterben, und heute war keine Ausnahme. Heute vor sechs Jahren waren ihr Mann und ihre kleine Tochter vor ihren Augen ums Leben gekommen.
Ihre Freunde machten sich Sorgen um sie, und irgendwie wusste sie diese Fürsorge auch zu schätzen. Aber sie verstanden sie einfach nicht. Natürlich wussten sie, was passiert war, allerdings ohne die genauen Einzelheiten zu kennen. Und damit die Schuldgefühle, mit denen Mary sich Tag für Tag herumplagte.
Ja, sie hatte im Vorgarten gestanden, als ihr Mann mit ihrer kleinen Tochter im Auto rückwärts aus der Einfahrt gestoßen war. Und ja, sie hatte das Polizeiauto, das dicht hinter einem anderen Wagen mit Blaulicht und Sirene um die Ecke gerast war, gehört, noch ehe sie es gesehen hatte. Und ja, sie hatte Daniel noch zugeschrien, dass er bremsen sollte, aber er hatte es nicht gehört. Doch kein Mensch außer ihr wusste, dass er im Streit weggefahren war, dass sie sich zum Abschied wütende Worte an den Kopf geworfen hatten. Niemand würde je wissen, wie Marys Schuldgefühle sie quälten oder wie sehr sie sich in dem Moment, in dem die drei Autos zusammengestoßen und in Flammen aufgegangen waren, gewünscht hatte, mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter zu sterben. Zusehen zu müssen, wie Daniel und Hope in diesem Feuer umkamen, hatte ihre Seele getötet. Seitdem wartete sie eigentlich nur noch darauf, dass ihr Körper ebenfalls starb.
Sie schaute auf die Uhr. Da sie erst in einer guten Stunde wieder in der Boutique sein musste, in der sie arbeitete, begann sie durch die Straßen zu schlendern.
Es war Jahre her, seit sie zum letzten Mal in diesem Stadtviertel von Savannah gewesen war. Ihre Freundin hatte diesen Treffpunkt vorgeschlagen und ihr vorgeschwärmt, wie schön es hier nach der Sanierung geworden wäre. Und Mary musste zugeben, dass das tatsächlich stimmte. Von den Bürgersteigen hatte man den Asphalt abgetragen und das alte Pflaster freigelegt. Der Straßenrand war mit Schatten spendenden Bäumen bepflanzt, unter denen man gemütlich dahinflanieren konnte. Zwischen den Häusern rankten sich an zierlichen Spalieren Efeu und Bougainvillea empor, was der Gegend einen europäischen Anstrich verlieh.
Mary wanderte ziellos durch die Straßen und schaute, ohne etwas zu sehen. Als sie an einer roten Ampel warten musste, hörte sie, wie sich zwei Frauen vor ihr über die beiden kleinen Mädchen unterhielten, die auf dem Heimweg von der Schule verschwunden waren, das zweite erst vor ein paar Tagen. Es gab keinerlei Hinweise darauf, was mit ihnen passiert war. Mary hatte Mitleid mit den Eltern, die sicher entsetzliche Angst um ihre Kinder ausstanden. Sie wusste, was es bedeutete, Menschen, die man über alles liebte, zu verlieren – sie hatte sogar für die beiden Mädchen gebetet, auch wenn sie nicht wirklich daran glaubte, dass es etwas half. In Wahrheit hatte Mary ihr Vertrauen in Gott und die Menschen verloren.
Sie spazierte weiter, wobei sie ab und zu ihre Schritte verlangsamte, um einen Blick in ein Schaufenster zu werfen,