1. KAPITEL
Hilflos tanzte das Boot auf dem aufgewühlten Ozean. Innerhalb einer Stunde hatte sich die milde Sommerbrise in einen Orkan verwandelt.
Sarah Gordon konnte nicht sagen, wo das dunkle Wasser endete und die schwarzen Wolken begannen. Weiße Gischt sprühte von turmhohen Wogen eiskalt in ihr Gesicht. Entsetzt sah sie zu, wie das Rettungsboot aus der Verankerung gerissen und über Bord gespült wurde.
„Mein Gott!“, flüsterte sie, unhörbar im Toben der Elemente, während sie zu ihrem Vater hinüberschaute, der mit dem Steuerrad kämpfte.
Der Bug des kleinen Schiffes hob sich fast senkrecht, während gewaltige Wellen das Deck überspülten. Sarah konnte die Küste schon erkennen, doch im Moment sah es so aus, als hätten sie kaum eine Chance, den sicheren Hafen je zu erreichen.
„Geh zu Mum in die Kabine!“, brüllte ihr Vater über den tosenden Sturm hinweg.
Frierend und durchnässt kämpfte Sarah sich zur Treppe. Sie klammerte sich am Geländer fest, um nicht den Halt zu verlieren.
„Wie schlimm ist es?“, fragte ihre Mutter, als Sarah eintrat. Ihr schmales Gesicht war blass.
„Schlimm.“
„Ich gehe nach oben.“
Sarah hielt ihre Mutter am Arm fest. „Nicht Mum, es ist zu gefährlich.“
Ihre Mutter drückte sie kurz an sich und küsste sie auf die Stirn, dann wandte sie sich zur Tür. „Ich muss zu William.“
In diesem Moment prallte eine neue Welle gegen das Boot. Das Holz des alten Schiffs krachte und ächzte, als wollte es jeden Moment auseinanderbrechen. Entsetzt sah Sarah zu, wie sich der Teppich der Kabine plötzlich vom hereinströmenden Wasser dunkel färbte.
„Ich hole Dad!“, rief sie ihrer Mutter zu und lief nach oben.
„Dad!“, schrie sie gegen das Heulen des Sturms. „Wir haben ein Leck in der Kabine!“
„Übernimm das Steuer!“
Mit aller Kraft versuchte Sarah, das hölzerne Lenkrad zu halten, während sie auf die Wellen starrte, die sich immer höher vor ihr auftürmten.
„Nein!“ Sarah erwachte von ihrem eigenen Schrei. Ihr Herz raste, und sie war schweißbedeckt.
Kann ich es nicht wenigstens im Schlaf vergessen? dachte sie, während sie versuchte, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das Unglück lag jetzt sechs Monate zurück, doch Nacht für Nacht durchlebte sie den Schrecken erneut.
Wie durch ein Wunder war sie gerettet worden. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ein Fischer sie aus dem Meer gezogen hatte. Tagelang hatte die mexikanische Küstenwacht erfolglos nach ihren Eltern und der Segeljacht gesucht. Schließlich war die Suche eingestellt worden.
Ihr Vater, ein bekannter Archäologe, hatte mit seinem kleinen Team, zu dem auch sie selbst und ihre Mutter gehörten, eine sagenumwobene Maya-Siedlung entdeckt. Die Bootstour hatte eine Belohnung nach vier Monaten Strapazen im Regenwald sein sollen.
Schaudernd blickte Sarah sich jetzt in ihrem Schlafzimmer um. Die Schatten in den Ecken schienen sich ihr zu nähern. Hastig schaltete sie die Nachttischlampe ein und sah auf die Uhr. Mitternacht war längst vorüber.
In diesem Moment wünschte sie sich, in einem kleinen, überschaubaren Apartment mit vielen Nachbarn zu wohnen und nicht allein in diesem großen, verwinkelten Haus an der schottischen Küste.
Sarah liebte ihr Zuhause. Nach dem furchtbaren Unglück hatte sie gehofft, hier die Schrecken der Vergangenheit zu überwinden. Aber alles erinnerte sie an die glücklichen Zeiten mit ihren Eltern, und sie spürte die Einsamkeit nur noch stärker.
Sollte sie vielleicht doch zurück nach England gehen? Dort war ihr eine Stelle als Dozentin an der Universität Cambridge angeboten worden. Nach der Entdeckung der Maya-Siedlung hatte sie Angebote von Hochschulen aus der ganzen Welt erhalten. Aber sie wollte wenigstens für kurze Zeit weg von der Archäologie, wo sie alles und jeder nur an die Vergangenheit erinnerte.
Andererseits musste sie Geld verdienen. Ihre Eltern waren zwar berühmte Wissenschaftler gewesen, aber sie hatten sich nie darum gekümmert, für die Zukunft zu sparen. Nach ihrem Tod hatte sie nur das Haus am Meer und ein wenig Geld geerbt, das mittlerweile schon fast aufgebraucht war.
Sarah zuckte zusammen, als ihr Handy auf dem Nachttisch einen Piepton von sich gab. Eine SMS. Mit zitternden Händen drückte sie einige Tasten, bis die Nachricht auf dem kleinen Monitor erschien:
„Noch wach? Wenn ja, ruf michan! Sonst morgen!! Gruß, Ellen.“
Sarah schmunzelte unwillkürlich, während sie schon die Nummer eintippte. Typisch Ellen. Die temperamentvolle Rothaarige war ihre beste Freundin und eine Nachteule. Ein Gespräch mit ihr war jetzt genau das Richtige!
Ellen nahm sofort ab. „Sarah? Du bist wirklich noch wach? Sag nicht, es ist ein Wunder geschehen, und du warst ausnahmsweise im Pub – oder hattest du vielleicht sogar eine Verabredung?“
„Nein, nein, ich konnte einfach nicht schlafen. Was gibt’s so Wichtiges, das nicht bis morgen warten kann?“ In Vorfreude auf eine Geschichte aus Ellens turbulentem Liebesleben kuschelte Sarah sich in die Kissen.
„Ich war heute bei meiner Jobagentur. Du glaubst nicht, was ich dort zufällig gehört habe!“
„Erzähl!“
„Alain Bartand sucht einen Nachhilfelehrer für seinen kleinen Bruder!“, stieß Ellen atemlos hervor.
„Willst du jetzt etwa Nachhilfe geben? Und wer ist Alain Bartand?“
Ellen stöhnte auf. „Das kannst auch wi