1. KAPITEL
Sam stupste Chandra mit der feuchten Nase ins Gesicht, jaulte und schleckte ihr übers Kinn.
„Lass das“, murmelte Chandra und kuschelte sich in die Decke. Hoffentlich verstand der Retriever das. Aber er blieb hartnäckig und bellte nun so laut, dass möglicherweise die Nachbarn davon aufwachten, die zehn Meilen entfernt die Straße hinunter wohnten.
Auf Chandras Weigerung, ihn zu beachten, tapste Sam die Treppe hinunter und begann erneut laut zu bellen.
Offensichtlich musste er hinaus. „Daran hättest du früher denken sollen.“ Langsam setzte sich Chandra im Bett auf. Als der Hund noch lauter bellte, überlegte sie, ihn für den Rest der Nacht auf die Veranda zu lassen. Aber da der Altweibersommer bereits in den Herbst überging, brachten die Nächte in den Vorbergen der Rocky Mountains hin und wieder Frosttemperaturen. „Aber es geschähe dir recht.“ Ungnädig warf sie einen Blick auf den Wecker auf ihrem Nachttisch. Ein Uhr dreiundvierzig. Zeit genug, noch einmal einzuschlafen, bevor der Wecker läuten würde.
Dennoch beugte sie sich hinunter und tastete unter dem Bett nach ihren Stiefeln. Da hörte sie es: Das Weinen, das bis in ihre Träume vorgedrungen war, dieses entfernte Wimmern, das sie an das hungrige Weinen eines Babys oder an das Schreien einer Siamkatze in Not erinnerte. Eine Gänsehaut überlief sie.
Du bildest dir das nur ein, sagte sie sich. Immerhin wohnte sie meilenweit von jeder Zivilisation entfernt.
Erneut unterbrach das Schweigen die Stille der Nacht. Chandra saß aufrecht in ihrem Bett. Ihr Herz schlug schneller. Rasch schwang sie die Beine aus dem Bett und ging über die abgetretenen Holzplanken zum Geländer, von wo aus sie das Erdgeschoss ihrer Hütte überblicken konnte.
Mondschein erleuchtete den Raum. Chandra konnte Sam kaum erkennen. Sein rauchfarbenes Fell vermischte sich mit den Schatten, während er winselnd und jaulend vor der Tür hin und her lief.
„Du denkst wohl, du bist Lassie, wie?“, meinte Chandra, „und willst mir mitteilen, dass draußen etwas nicht in Ordnung ist.“ Als Antwort jaulte der Hund laut auf.
„Unsinn, Sam.“ Chandras Haut prickelte. Da hörte sie es wieder, dieses Schreien, das ihre Haare zu Berge stehen ließ. Schrie da ein Baby? Unmöglich. Nicht hier in den Bergen. Ihre Fantasie täuschte sie. Sicher befand sich ein wildes Tier in Not, war verwundet – eine streunende Katze, ein Bärenjunges, das