1. KAPITEL
Ein Hurrikan der Kategorie 3 raste auf St. Lucia zu. Michael gewann auf dem Ozean an Stärke. Die Meteorologen hatten eine Warnung herausgegeben und erwarteten, dass der schwere Hurrikan innerhalb der kommenden vierundzwanzig Stunden die karibische Insel erfassen würde.
Bislang war noch alles ruhig. Über den Regenwäldern ging die Sonne unter. Nicht einmal die Spur eines Windhauchs brachte die Wedel der Palmen zum Rascheln, die vor langer Zeit rund um das Gestüt gepflanzt worden waren.
Abbie wusste allerdings aus Erfahrung, dass dies die Ruhe vor dem Sturm war. Im vergangenen Jahr hatte ein tropischer Wirbelsturm ihr Haus abgedeckt und fast das Gestüt vernichtet. Der Wiederaufbau hatte Zeit und viel Geld gekostet. Noch immer hatte sie mit den finanziellen Folgen zu kämpfen. Ein weiterer Hurrikan würde ihr das Genick brechen.
Also hatte sie den Nachmittag damit zugebracht, alles zu vernageln und zu befestigen und war noch immer damit beschäftigt, schweres Gerät in die Lagerräume zu schaffen.
„Dein Vater hat schon wieder angerufen, Abbie“, rief Jess ihr zu, als sie das Haus verließ. „Er hat auf den Anrufbeantworter gesprochen.“
„Danke, Jess.“ Geistesabwesend strich Abbie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie hatte ihrem Vater nichts zu sagen, und es interessierte sie auch nicht, was er wollte. Allerdings fand sie es seltsam, dass er wieder Kontakt aufgenommen hatte.
Sie verstaute das Werkzeug und erklomm die Veranda. Jess hatte Mario auf dem Arm. Als der Kleine seine Mutter erblickte, strahlte er und streckte die Ärmchen nach ihr aus.
Lächelnd nahm sie ihn auf den Arm und küsste ihn zärtlich. Mario war jetzt einundzwanzig Monate alt und wurde immer niedlicher. Für ihn allein lohnte sich jede Anstrengung in Abbies Leben.
„Wenn du willst, kannst du jetzt gehen, Jess. Du hast doch heute Abend eine Verabredung, oder?“, fragte sie und herzte ihren Sohn.
„Ja, bist du sicher, dass du mich nicht mehr brauchst?“
„Klar. Geh nur, und amüsier dich schön.“
Abbie sah zu, wie das junge Mädchen in den Geländewagen stieg. Mit ihren achtzehn Jahren war Jess ihre jüngste Angestellte, und diejenige, die am härtesten arbeitete. Sie war ausgebildete Erzieherin, eine hervorragende Reiterin und erledigte vielfältige Aufgaben auf dem Gestüt. Ohne Jess würde ich gar nicht zurechtkommen, dachte Abbie und winkte ihr nach.
Es wurde jetzt schnell dunkel. Das Gestüt lag an einer einsamen Straße, die zur Bucht führte. Das nächste Haus war mehrere Kilometer entfernt, und nur selten verirrte sich ein Auto in diesen abgelegenen Winkel der Insel. Normalerweise machte Abbie die Einsamkeit nichts aus, doch als sie jetzt dem Geländewagen nachsah, wurde ihr bewusst, wie isoliert sie hier war.
Wahrscheinlich macht mich der herannahende Sturm nervös, dachte sie und verschwand mit Mario im Haus.
Ihr erster Blick fiel auf den Anrufbeantworter. Zehn neue Nach