1. Kapitel
„Brutus, was soll das?“, murmelte ich, während ich am Strand entlanglief. Ich kuschelte mich tiefer in meine Strickjacke, um die salzige Brise abzuhalten. Es würde schon bald heiß sein, wie üblich in Miami, aber jetzt, kurz vor Sonnenaufgang, war die Frühlingsluft noch etwas zu kühl für das leichte knielange Sommerkleid, das ich übergezogen hatte, um nach meinem entlaufenen Haustier zu suchen.
„Brutus!“, rief ich laut. „Wo bist du?“
Seit mehr als fünfzehn Minuten rief ich vergeblich nach ihm und fing langsam an, mir Sorgen zu machen. Er war noch nie so knapp vor Tagesanbruch von zu Hause fortgeblieben. Ich hatte Brutus zwar nicht haben wollen, als man ihn mir aufgedrängt hatte, und er war definitiv nicht das, was sich normale Menschen unter einem Haustier vorstellten, aber während der vergangenen zwei Monate war er mir doch ans Herz gewachsen.
Jeden Abend verließ er bei Anbruch der Dämmerung das Haus und war spätestens um fünf Uhr früh wieder da. Vor seiner Zeit mit mir hatte er sein ganzes Leben in Finsternis verbracht; Brutus hasste die Sonne nicht nur, er hatte sogar regelrecht Angst vor ihr. Daher war ich losgezogen, um nach ihm zu suchen, als er heute Morgen um halb sechs immer noch nicht wieder aufgetaucht war. Der North Shore Open Space Park in Miami Beach war einer seiner Lieblingsplätze, und zu dieser frühen Stunde lag der Strandabschnitt, den ich ablief, noch völlig verlassen da.
Finster starrte ich auf den langsam heller werdenden Horizont und wurde immer nervöser. „Brutus!“, brüllte ich wieder. Wehe, wenn er mir aus dem Weg ging, weil er die Regeln gebrochen und jemanden gefressen hatte.
Selbst wenn er sich bislang nichts hatte zuschulden kommen lassen, würde er, wenn ich ihn nicht schnellstens fand, vermutlich in ein fremdes Haus eindringen, um dem Sonnenlicht zu entkommen. Und falls das passieren sollte, dann gnade Gott dem Hausbesitzer, der ihn entdeckte und versuchte, ihn zu verscheuchen.
„Hast du was verloren?“, ertönte da eine unbekannte männliche Stimme hinter mir.
Ich erstarrte. Vor einem Augenblick war noch niemand außer mir am Strand gewesen. Meine erst kürzlich aufgerüsteten Sinne hätten selbst durch das Rauschen der Brandung hindurch registrieren müssen, dass jemand direkt auf mich zugerannt kam. Und er hätte schon ziemlich schnell rennen müssen, um die Strecke binnen Sekunden zu bewältigen.
Es gab noch eine andere Erklärung, wie der Mann so plötzlich und lautlos hinter mir auftauchen konnte, aber sollte sie zutreffen, würde einer von uns diesen Strand nicht mehr lebend verlassen.
Ich durfte ihm nicht zeigen, dass ich wusste, dass womöglich etwas nicht stimmte.
„Du hast mich erschreckt!“, sagte ich. Hoffentlich klang das eher überrascht als verängstigt.
Der Fremde lächelte. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht. „Tut mir leid. Ich habe dich schreien hören und bin rasch rübergekommen, um zu sehen, ob du vielleicht Hilfe brauchst.“
Er schien ein paar Jahre älter zu sein als ich, so ungefähr Anfang bis Mitte zwanzig. Obwohl er eher schmächtig wirkte, war er auf jungenhafte Art ziemlich süß. Wäre ich ihm letztes Semester am College begegnet, hätte ich die Schatten, die unter seiner Haut auftauchten und wieder verschwanden, für reine Einbildung gehalten. Immerhin hatten diverse Ärzte Halluzinationen bei mir diagnostiziert. Das Problem war jedoch, dass ich inzwischen wusste, dass ich nicht verrückt war, auch wenn es Tage gab, an denen ich mir wünschte, ich wäre es.
Dann sah ich seine Augen aufleuchten wie die eines Tiers im Scheinwerferlicht – das war der Beweis für das übernatürliche Äquivalen