1. KAPITEL
Abby Stanford hörte einen gedämpften Knall, konnte das Geräusch jedoch nicht einordnen.
Sie fuhr schnell, ganz wie es ihre Art war – selbst auf einer unbekannten, verschneiten, kurvenreichen Bergstraße mitten in der Nacht. Schließlich hatte ihr schwarzer Lexus eine gute Straßenlage, und Abby tat nun einmal fast alles in rasantem Tempo. Doch das sollte sich ändern. Ab morgen würde sie ihre gesamte Persönlichkeit umkrempeln und ein beschauliches Leben voller Muße beginnen. Zunächst jedoch musste sie Tahoe erreichen. Normalerweise brauchte man für die Fahrt von Los Angeles nach South Lake Tahoe acht Stunden, aber sie wollte es in weniger als sieben schaffen.
Es waren noch etwa zwanzig Minuten bis zu ihrem Ziel. Weder ihre Kopfschmerzen noch ein kleiner Schneesturm hatten sie bisher aufgehalten. Verglichen damit erschien ihr ein komischer leiser Knall völlig belanglos.
Dann vernahm sie ein anderes Geräusch, eine Art Holpern. Der Wagen ließ sich plötzlich nicht mehr geradeaus lenken und schien hinten rechts wegzusacken.
Sie hatte noch nie eine Reifenpanne gehabt, doch alle Anzeichen deuteten leider genau darauf hin.
Schnell stellte Abby fest, dass weit und breit kein anderer Wagen in Sicht war. Sie fuhr an den Straßenrand, schaltete die Warnblinkanlage ein und stieg aus.
Sofort wehte ihr Schnee ins Gesicht und ließ ihre Wangen brennen. Mit ihren Pumps sank sie augenblicklich mehrere Zentimeter tief in die Schneedecke ein. In Los Angeles hatte ihr ein Trenchcoat über dem Kostüm als Wetterschutz gereicht. Natürlich hatte sie in Tahoe kältere Temperaturen erwartet. Allerdings nicht, dass sie ihr warmes Auto würde verlassen müssen, außer, um in die Wohnung zu gehen, die sie gemietet hatte.
Wegen des leuchtend weißen Schnees ringsum war es kein Problem, etwas zu sehen. Die Arme fröstelnd um sich geschlungen, ging Abby zum Heck des Wagens und besah sich den platten Reifen von allen Seiten.
Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und schluckte hart. Nein, sie würde nicht in Panik geraten. Das tat sie nie, und in Tränen ausbrechen konnte sie später immer noch. Hilfe herbeizutelefonieren war nicht möglich. In den letzten sieben Jahren hatte Abby ständig ihr Handy bei sich getragen. Doch weil ein solches Telefon zu den Symbolen des stressigen Lebensstils gehörte, den sie ablegen wollte, hatte sie das verflixte Ding abgeschafft – wohl etwas voreilig. Und weit und breit war kein Haus oder ein anderes Fahrzeug in Sicht.
Also würde sie die Situation allein meistern müssen.
Sie öffnete den Kofferraum. Da sie zwei Monate in Tahoe bleiben wollte, war er natürlich bis oben hin vollgepackt. Kurzerhand warf sie ihre drei Designerkoffer in den Schnee. Irgendwo musste im Kofferraum eine Taschenlampe sein. Ein Ersatzreifen. Und ein Wagenheber.
Mehr brauchte sie nicht, um einen Reifen zu wechseln.
Vorausgesetzt, man wusste, wie.
Abby schluckte erneut. Ihr Herz klopfte heftig, und ihre Kopfschmerzen waren noch schlimmer geworden. Das Problem, sagte sie sich, ist nicht, das du eine Heidenangst hast. Das Problem ist deine seelische Verfassung.
Es war der erste Januar – ihr vierunddreißigster Geburtstag –, und vor einer Woche war ihre ganze Welt eingestürzt. Diese Reise hatte sie als “Versagerin”, angetreten, und dieses hässliche Wort peinigte sie unablässig. Wenn eine Frau alles, was ihr etwas bedeutete, verlor, dann war es ihr gutes Recht, ein wenig gereizt zu sein. Oder sogar wütend.
Doch schlechte Laune half ihr nicht weiter. Abby hatte Herausforderungen immer