1. KAPITEL
Der dunkle Fleck am Horizont verwandelte sich langsam in eine mit Pinien bewachsene Insel, über der sich ein strahlend blauer Himmel wölbte. Als das Charterboot näher kam, konnte Isobel den Hafen mit den Tavernen erkennen, beschattet von bunten Markisen. Dahinter lagen schneeweiße Häuser mit hellbraunen Dächern.
Während das Boot langsam in den Hafen einfuhr, versuchte Isobel das Ferienhaus auszumachen, das sie im Reisebüro gebucht hatte. Aber sie gab es schnell auf, denn zu ihrem Erstaunen hatten die meisten Häuser blaue Türen und Balkone, so wie das aus dem Reiseprospekt. Nachdem sie angelegt hatten, rückte sie ihre große Umhängetasche über der Schulter zurecht und nahm ihre Reisetasche in die Hand. Sie war da!
Jetzt wollte sie erst einmal zu Mittag essen und sich dann erklären lassen, wie sie zu ihrem Ferienapartment auf der wunderschönen Insel Chyros kommen würde. Die Taverne, in der sie laut ihren Reiseunterlagen nachfragen sollte, sah sehr einladend aus. Fast jeder Tisch war besetzt. Die Gäste lachten, unterhielten sich lauthals, aßen und tranken.
Sie steuerte auf einen der letzten freien Tische draußen unter der Markise zu. Die Taschen hielt sie dicht bei ihren Füßen, während sie die Speisekarte studierte. Mit einem freundlichen Lächeln zeigte sie dem Kellner, wofür sie sich entschieden hatte.
Wenig später brachte man ihr Mineralwasser und Brot, danach einen bunten griechischen Salat mit Fetakäse. Sie aß, als hätte sie seit Tagen nichts mehr zu sich genommen. Und das war nicht einmal sehr weit von der Wahrheit entfernt. Das Ankommen gefiel ihr sehr viel besser als die Reise selbst.
„Hat Ihnen dersalata geschmeckt?“, fragte der Kellner und warf einen zufriedenen Blick auf ihren leeren Teller.
Isobel lächelte, erleichtert darüber, dass er Englisch sprach. „Sehr gut. Es war köstlich.“ Sie holte ihren Reiseprospekt aus der Tasche. „Könnten Sie mir bitte helfen? Mir wurde gesagt, dass ich die Schlüssel für eines dieser Apartments hier abholen kann.“
Auch er lächelte und nickte. „Mein Vater hat sie. Ihm gehört die FerienanlageKalypso. Wenn Sie einen Moment warten, bringe ich Sie hin.“
Verlegen schüttelte Isobel den Kopf. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber Sie müssen deswegen nicht Ihre Arbeit unterbrechen. Ich kann mir ein Taxi nehmen …“
Er grinste. „Mein Vater ist Nikos. Ihm gehört auch die Taverne. Er wird sich freuen, wenn ich Sie hinbringe. Ich bin gerade vom Krankenhaus zurück.“
Überrascht sah sie den jungen, muskulösen Mann an. „Waren Sie krank?“
„Nein, ich arbeite dort als Arzt. Aber ich helfe zu Hause aus, wenn viel zu tun ist. Ich bin Alex Nicolaides. Wenn Sie mir Ihren Namen für die Unterlagen meines Vaters nennen, kann ich Sie zumKalypso bringen.“
„Isobel James“, stellte sie sich vor. Nachdem sie ihr Wasser ausgetrunken und die Rechnung bezahlt hatte, kam der hilfsbereite Alex wieder.
„Wir können zu Fuß hingehen, es ist nicht weit“, erklärte er und nahm ihr Gepäck, wobei Isobel schnell nach ihrer großen Handtasche griff. „Die nehme ich schon.“
„Da sind sicher Ihre Wertsachen drin“, mutmaßte Alex, als sie die Marina entlangschlenderten.
„So ungefähr.“ Sie zog den Schirm ihrer Kappe bis zur Sonnenbrille herunter. „Einige meiner Malutensilien.“
„Sind Sie Künstlerin, Miss James?“
Isobel lächelte. „Ich versuche zumindest, eine zu sein.“
Ihr Begleiter hatte recht. Es war nicht weit bis zu den Ferienwohnungen. Doch die brütende Hitze trug dazu bei, dass Isobel erschöpft war, als sie bei den sechs weißen Ferienhäuschen ankamen, die sich am Ende des Hafens den Hügel hinaufzogen. Inmitten von Grün gelegen, hatten alle Häuser blaue Balkone, mit Blick über das strahlend blaue Meer, auf dem kleine Boote träge schaukelten.
Ihr Begleiter schaute auf die Nummer, die an ihrem Schlüssel hing, und warf Isobel einen zweifelnden Blick zu. „Ihr Haus liegt ganz hinten oben auf dem Hügel. Ist Ihnen das nicht zu abgelegen?“
Sie schüttelte den Kopf. Weit gefehlt. Denn die Ruhe und die relative Abgeschiedenheit des Häuschens waren genau das, was sie brauchte.
Sie hatten die anderen Häuser schon ein Stück hinter sich gelassen, als der junge Mann sie einen steilen Pfad hinaufführte, der von Piniennadeln bedeckt war. Er stellte ihr Gepäck auf der Veranda mit den Gartenmöbeln ab und öffnete mit einer schwungvollen Handbewegung die Tür zu Isobels Feriendomizil.
„Willkommen auf Chyros, Miss James. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“
Sie riss sich von dem schönen Ausblick los und wandte sich dem Mann zu. „Den werde ich sicher haben. Noch etwas – wo ist der nächste Strand?“
„Unten beim Hafen. Aber gleich hier gibt es auch einen, der Ihnen sicher besser gefallen wird.“ Er deutete auf den schmalen Pfad, der sich hinter dem Haus durch die Pinien schlängelte. „Er ist klein, aber sehr schön. Und es sind nicht viele Leute dort, weil der Weg so steil ist.“
„Klingt wunderbar. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Isobel schenkte ihm zum Abschied ein herzliches Lächeln und betrat ihr neues Quartier. Es bestand hauptsächlich aus einem großen Raum mit weißem Fliesenboden und gelb gestrichenen Wänden, in dem eine Klimaanlage für ang