1. KAPITEL
Das erste Zeichen war das Parfum ihrer Großmutter. Das zweite das Kribbeln in ihrem Nacken. Während sie Grannys Duft mit etwas Freundlichem und Vertrautem verband, jagte ihr das zweite Zeichen kalte Schauer über den Rücken.
Carissa Grace ignorierte niemals Zeichen.
Ängstlich blickte sie sich vor dem Cove Hotel von Sydney um. Ihre Stiefschwester Melanie hatte darauf bestanden, Carissa nach ihrem Auftritt in der Pianobar heute Abend abzuholen – um kurz nach zwölf. Das war vor zwanzig Minuten gewesen.
Beeil dich, Mel. Hier ist irgendetwas …
Das Kreischen von Autobremsen hallte durch die Nacht und übertönte die sanften Saxofonklänge aus dem nahe gelegenen Nachtklub. Als der verbeulte Holden auf den Kantstein rauschte, überstrahlten dessen Scheinwerfer die Szene für einen Moment wie silberne Laser.
Carissa stand wie angewurzelt da, bis der Wagen gleich wieder verschwand und eine Wolke beißenden Abgas- und Gummigestanks zurückließ.
„Jemand verletzt?“, fragte eine tiefe Stimme hinter ihr. Dann trat ein Mann aus der Menge der Hotelgäste.
Er war groß und breitschultrig. Sein Kinn wies einen dunklen Bartschatten auf, das braune Haar war ungekämmt und kräuselte sich im Nacken. Er trug ausgeblichene schwarze Jeans und ein T-Shirt. Kurz: Er verkörperte sämtliche „Bad Boy“-Fantasien Carissas.
„Jemand soll einen Krankenwagen rufen“, kommandierte er.
Da erst sah Carissa die Gestalt, die auf dem Pflaster lag. Mit zwei großen Schritten war der Mann bei ihr, beugte sich über sie und sprach leise mit ihr. Es handelte sich um eine alte Frau, wie Carissa jetzt erkannte. Sie hatte kurz zuvor beobachtet, wie die Frau eine Mülltonne in der Nähe durchwühlte. Trotz der Hitze war sie in einen schmutzigen Mantel gehüllt. Nun versuchte sie zitternd, sich aufzurichten.
Ohne zu zögern stützte der Mann ihren Kopf mit einer Hand, hielt sie hoch und redete beruhigend auf sie ein.
Carissa lief hinüber, um die vollgestopfte Tasche der Frau aufzuheben. Dann hockte sie sich neben sie. „Hier sind Ihre Sachen.“
Die Frau warf ihr einen misstrauischen Blick zu und griff nach der Plastiktüte.
„Ist alles okay?“, fragte Carissa.
„Ich glaube schon“, sagte er. „Aber sie sollte lieber untersucht werden.“ Er war so beschäftigt, dass er Carissa gar nicht ansah.
Neben dem strengen Geruch der Stadtstreicherin nahm Carissa eine männliche Note wahr. Es war lange her, seit sie unverfälschten männlichen Körperduft gerochen hatte. Alasdair duftete immer nach französischem Rasierwasser. Allerdings konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass ihr Verlobter diese Situation so ruhig und selbstbewusst gemeistert hätte.
Der Mann setzte die Frau auf und strich ihr über den Rücken. Dabei bemerkte Carissa die teure Uhr an seinem Handgelenk. „Meinen Sie, Sie können …“ Eine Autohupe verschluckte den Rest seiner Worte.
Carissa sah zur Straße. Das Hupen galt ihr. Sie winkte Melanie zu und stand auf. Da der Fremde hier alles unter Kontrolle hatte, wurde sie wohl nicht mehr gebraucht.
„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, sagte Mel, als Carissa zu ihr ins Auto stieg. „In der Notaufnahme tobte der Bär. Was ist hier eigentlich los?“
„Hier tobt auch gerade der Bär“, antwortete Carissa, die immer noch Herzklopfen hatte. „Aber jetzt dürfte alles geregelt sein.“ Dank dem Helden des Tages.
Sie sah immer noch zu dem Mann, der in diesem Moment die Stadtstreicherin in die Lobby des Cove führte.
Ein Mann mit gefährlich viel Sex-Appeal. Er sah aus, als wäre er geradewegs einem erotischen Tra