1. KAPITEL
Haley schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte zufrieden. „Hab ich dir nicht gesagt, dass du es mir eines Tages büßen wirst?“, murmelte sie.
„Was sagst du?“, fragte Steve und beugte sich zu ihr hinunter. Er war mehr als einen Kopf größer als sie, und da sie heute keine High Heels trug, fiel es noch mehr auf als sonst.
„Alles bestens“, antwortete sie gut gelaunt und sah sich um. In dem Gebäude vor ihnen war alles ruhig. Dort ahnte noch niemand, was der Versammlung gleich blühen würde. Haley und die anderen hatten sich unbemerkt heranschleichen können. Nun scannte sie kurz die Menschenmenge vor dem Gebäude. Alle schienen an ihren Plätzen zu sein, sie konnten beginnen. „Wollen wir?“, fragte sie.
Steve nickte ebenso zufrieden wie sie, dann führte er eine Trillerpfeife an seinen Mund und blies hinein. Das war das Startsignal. Das leise Gemurmel um sie herum schwoll sofort an und plötzlich war die Luft erfüllt von Pfeifen und Rufen. Viele schwenkten selbst gebastelte Plakate, so auch Haley. „Kein Offshore-Windpark vor unserer Küste“, riefen schon bald alle Anwesenden im Takt. Vereinzelt ertönte immer wieder eine Trillerpfeife.
Es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Fenster des Gebäudes, das hauptsächlich aus Glas und Chrom bestand, öffneten und schick gekleidete Männer und Frauen einen neugierigen Blick auf die Straße warfen. Haley sah sich ebenso neugierig um, und da entdeckte sie ihn. Er stand an einem geöffneten Fenster im dritten Stock, neben ihm eine Frau mittleren Alters in Businessdress, die wild mit den Händen gestikulierte. Bevor er sie, Haley, in der Menge entdecken konnte, war er auch schon wieder verschwunden. Haley konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Sie wusste, dass er nach unten kommen würde, und tatsächlich trat er nur wenige Minuten später aus dem gläsernen Haupteingang hinaus in die Sonne.
„Das ist der Firmenchef“, sagte Haley zu Steve. „Der sucht mit Sicherheit dich.“
Steve nickte. „Soll er nur kommen.“
Entschlossen schritt der Mann auf die Menge zu und fragte den erstbesten Demonstranten etwas, das Haley aufgrund des Lärms nicht verstehen konnte. Dann bahnte er sich einen Weg zu ihnen: William Fitzgerald. Haley hatte ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen. Ihre Familien waren zwar nach wie vor befreundet, doch meistens zog Haley sich zurück, wenn die Fitzgeralds ihren Besuch ankündigten. Außerdem hatte sie bis vor Kurzem noch in Cambridge gelebt und studiert. Trotzdem freute sie sich auf die Begegnung mit Will, auch wenn sie nicht genau sagen konnte warum.
Als er sie erkannte und auf einmal in seiner Bewegung verharrte, setzte ihr Herzschlag aus unerklärlichem Grund für einen Moment aus. Sie kannte aktuelle Fotos von ihm aus der Zeitung, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass er in natura so gut aussehen würde. Die hellbraunen Haare standen ihm wie schon damals etwas unordentlich vom Kopf ab, seine blauen Augen erschienen ihr warm und vertraut. Schon zu Schulzeiten hatte er gut ausgesehen, doch lange nicht so umwerfend wie heute. Er war etwa 1,85 Meter groß, und obwohl er einen edlen schwarzen Anzug trug, konnte Haley erkennen, dass er vermutlich ziemlich viel Zeit im Fitnessstudio verbrachte.
Nun grinste er sie an, und Haley schluckte. „Little Miss Toad“, begrüßte er sie und kam näher auf sie zu.
Haley verspannte sich sofort.Kleine Krötenlady. Sie hasste es, wenn er sie so nannte. Unwillkürlich musste sie an den Tag denken, als er ihr diesen Namen verpasst hatte. Zwölf Jahre war sie damals gewesen. Mithilfe von William hatte sie eines Abends Kröten gerettet, indem sie sie über die Straße getragen hatte. Alles war in bester Ordnung gewesen, doch dann hatte Will sie am nächsten Tag auf dem Schulhof vor versammelter Mannschaft Little Miss Toad genannt. Und seitdem ha