: Volker Streiter
: Eidergrab
: Emons Verlag
: 9783960410089
: 1
: CHF 7.70
:
: Historische Kriminalromane
: German
: 304
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eiderstedt 1846: Dina Martensen soll nach dem Verbleib einer jungen Milchmagd forschen, von der jede Spur fehlt. Die Gendarmerie nimmt den Fall zunächst nicht ernst, doch dann wird eine Frauenleiche in der Marsch gefunden, gefesselt und geschändet. Ist die Tote die Vermisste? Als wenig später ein Knecht vergraben im Deich entdeckt wird, beginnt für Dina ein Wettlauf gegen die Zeit.

Volker Streiter, geboren im westfälischen Soest, kam nach der Polizeiausbildung nach Köln und ließ sich dort nieder. Als Polizist streifte er durch Trabantenstädte wie Millionärshäuser, war Einsatztrainer und ist Teil der 'Stadtteilpolizei '. In der Freizeit lässt er aus Spaß am Schreiben und der Faszination für die Natur in schönen Gegenden morden.

BEUNRUHIGENDER BRIEF

Erste Sonnenstrahlen vertrieben den feuchten Dunst, der über der nordfriesischen Insel Amrum lag. Ein leichter Wind wirbelte das Herbstlaub durch den Garten des reetgedeckten Hauses. Dina Martensen, die ihre Ziegen und die einzige Kuh gemolken hatte, trat aus dem angrenzenden Stall, stellte beide Eimer ab und zog hinter sich die Tür zu. Zufrieden blinzelte sie in die Sonne und sog die frische Meeresluft ein. Es schien ein schöner Herbsttag zu werden.

Die strohblonde, gerade gewachsene Friesin war in ihrem neunundzwanzigsten Jahr. Unter einer bestickten Haube lugten einige Haarsträhnen hervor, über ihrem Hauskleid trug sie eine Schürze. Die Schultern bedeckte ein über der Brust gekreuztes Tuch, die Füße steckten in Holzschuhen.

In einem Monat würde ihr Bruder wieder für wenige Wochen sein Schiff verlassen und durch die Gässchen von Nebel streifen, seinem Heimatdorf. In seiner Abwesenheit führte sie die Hauswirtschaft, besorgte die Ernte und versorgte das Vieh. Solange die Geschwister unverheiratet waren, behalfen sie sich mit diesem zufriedenstellenden Arrangement. Ohnehin war Amrum in der meisten Zeit des Jahres eine Fraueninsel, da die Männer monatelang auf See waren. Sie verdingten sich als Matrose, Steuermann oder Kapitän oder fuhren als Robbenschläger in den Norden. Dinas Bruder steuerte die »Apollo«, eigentlich ein Frachtschiff, deren jährliche Fahrten mit den aufziehenden Herbst- und Winterstürmen endeten. Erst im Spätwinter stach die »Apollo« wieder gen Grönland in See. Im ewigen Eis wurden Robben erschlagen, Felle und Tran der Tiere waren begehrt. Zuvor hatte jahrhundertelang der Walfang der Insel zu Reichtum verholfen. Doch seit den Bedrückungen des Napoleonischen Krieges und der damit verbundenen Kontinentalsperre war das einträgliche Geschäft für die Amrumer Seeleute Vergangenheit. Seit gut vierzig Jahren suchten sie ihr Glück nun schon anderweitig.

Dina freute sich auf ihren Bruder und die schönen, fremden Dinge, die er ihr jedes Mal aus den Häfen der Welt mitbrachte. Aber mehr noch genoss sie seine Geschichten, die er zu erzählen wusste. Doch bis Boy Jonas wieder zu Hause sein würde, hielten Haus und Land sie zur Arbeit an.

Sie wollte die Milcheimer in die Küche schleppen, da sie laut ihren Namen hörte. Von der Dorfstraße her winkte eine füllige Frau. Sie trug ein Kleid aus grobem Stoff und schien sich ihr Kopftuch schnell übergeworfen zu haben. Für den frischen Wind war sie nicht ausreichend bekleidet und wirkte, als habe sie überhastet das Haus verlassen. In der Hand hielt sie einen Brief.

Dina erkannte sogleich Auguste, die mit dem Wirt des Norddorfer Dorfkrugs verheiratet war. Sie wird doch wohl nicht den ganzen Weg hierher gelaufen sein, nur um mir die Post zu bringen?, dachte sie.

Ohne zu zögern kam die Besucherin auf sie zu.

Dina blickte in das wettergegerbte Gesicht der Frau, sah, wie sich deren Augen mit Tränen füllten, und hörte das Beben in der Stimme, als Auguste sprach.

»Dina, ach, Dina,