: David Steindl-Rast
: Fülle und Nichts Von innen her zum Leben erwachen
: Verlag Herder GmbH
: 9783451807442
: 1
: CHF 10.50
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: Lebensführung, Persönliche Entwicklung
: German
: 192
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wir sind fähig zur Vereinigung mit der 'letzten Wirklichkeit'. Bruder David zeigt den Weg, wie wir aufhören können, unser Bewusstsein zu trüben und zu verwirren. Wir müsen nur ankommen - im Hier und Jetzt. Er zeigt, wie wir zur Erfahrung dieser Tiefe finden, in diesem Augenblick, in jedem Augenblick. Er lädt den Leser ein, das Herz für diese Tiefenerfahrung zu öffnen und das Geschenk des Daseins wahrzunehmen - in Dankbarkeit und Freude.

David Steindl-Rast OSB, geb.1926 in Wien, studierte Kunst, Anthropologie und Psychologie an der Universität Wien. Lebt seit 1952 in den USA. Teilnahme am buddhistisch-christlichen Dialog und intensives Zen-Studium. Vortragsreisen in alle fünf Kontinente.

Staunen und Dankbarkeit


Ein Regenbogen ist immer eine Überraschung. Das soll nicht heißen, daß man ihn nicht voraussagen könnte. Manchmal bedeutet überraschend unvorhersagbar, häufig aber bedeutet es mehr. Überraschend im umfassenden Sinn bedeutet irgendwie grundlos, geschenkt, gratis. Selbst das Vorhersagbare wird zur Überraschung, wenn wir aufhören, es für selbstverständlich zu halten. Wüßten wir genug, dann wäre alles vorhersagbar, und doch bliebe alles grundlos. Wüßten wir, wie das gesamte Universum funktioniert, dann wäre es immer noch überraschend, daß es das Universum überhaupt gibt. Mag es auch vorhersagbar sein, so ist es doch umso überraschender.

Unsere Augen öffnen sich diesem Überraschungscharakter unserer Welt im gleichen Moment, da wir aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich zu erachten. Regenbogen haben etwas an sich, das uns aufwachen läßt. Es kommt vor, daß ein uns völlig Unbekannter uns am Ärmel zieht und zum Himmel zeigt: »Haben Sie den Regenbogen bemerkt?« Gelangweilte und langweilige Erwachsene werden zu erregten Kindern. Vielleicht verstehen wir nicht einmal, was uns da aufscheuchte, als wir jenen Regenbogen sahen. Was war es? Es war das Geschenkhafte, das da in uns hereinplatzte, die Unentgeltlichkeit aller Dinge. Wenn so etwas geschieht, dann ist unsere spontane Reaktion Überraschung. Plato erkannte jene Überraschung als den Anfang aller Philosophie. Sie ist auch der Beginn von Dankbarkeit.

Eine kurze Begegnung mit dem Tod kann jene Überraschung auslösen. In meinem Leben kam das sehr früh zustande. Da ich im von den Nazis besetzten Österreich aufwuchs, gehörten Luftangriffe zu meiner täglichen Erfahrung. Und ein Luftangriff kann einem die Augen öffnen. Ich erinnere mich an einen Tag, als die Bomben zu fallen begannen, unmittelbar nachdem die Warnsirenen abgeschaltet waren. Ich befand mich auf der Straße. Da es mir nicht gelang, schnell genug einen Luftschutzbunker zu erreichen, rannte ich an eine nur ein paar Schritte entfernte Kirche. Um mich vor Glassplittern und Trümmern zu schützen, kroch ich unter eine Kirchenbank und verbarg mein Gesicht in den Händen. Als aber die Bomben draußen explodierten und der Boden unter mir erzitterte, da war ich sicher, daß das gewölbte Dach jeden Moment einstürzen und mich lebendig begraben würde. Nun, meine Zeit war noch nicht gekommen. Ein gleichbleibender Ton der Sirene verkündete, daß die Gefahr vorüber sei. Und da stand ich nun, reckte mich, klopfte den Staub aus meiner Kleidung und trat heraus in einen herrlichen Maimorgen. Ich lebte. Welch eine Überraschung! Die Gebäude, die ich vor weniger als einer Stunde noch gesehen hatte, waren jetzt rauchende Schuttberge. Was mich aber auf überwältigende Art und Weise überraschte, war, daß es dort überhaupt noch irgendetwas gab. Meine Augen fielen auf wenige Quadratmeter Rasen inmitten all dieser Zerstörung. Es