: Hannah Arendt
: Matthias Bormuth
: Sokrates. Apologie der Pluralität
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783957572011
: 1
: CHF 8.70
:
: Philosophie
: German
: 112
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Hannah Arendt dachte zeitlebens im Horizont Sokrates'. Schon in den amerikanischen Anfängen stellte sie den Lehrer Platons in den Mittelpunkt ihrer Versuche, ein politisch relevantes und persönlich haltbares Denken für die Moderne zu begründen. Meisterhaft entfaltet diese Vorlesung aus den 50er Jahren eine Apologie der menschlichen Pluralität. So wendet sich Arendt gegen die platonische Versuchung, der Relativität der möglichen Wahrheiten mit der absoluten Autorität eines wegweisenden Denkansatzes begegnen zu wollen. Entscheidend ist für Arendt der innere Dialog, den Sokrates philosophisch initiierte. Zudem hebt sie die Kommunikation unter Bürgern und Freunden hervor, die im Austausch der Meinungen gemeinsame Perspektiven der Weltgestaltung eröffnen könne. In den Erinnerungen 'In Hannah Arendts Seminar' berichtet ihr letzter Assistent Jerome Kohn, wie sich entlang platonischer Texte das gemeinsame Nachdenken mit der Philosophin an der New School of Social Research gestaltete.

Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 war sie als Lektorin, danach als freie Schriftstellerin tätig. Sie war Professorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte ab 1967 an der New School for Social Research in New York, wo sie 1975 starb.

Hannah Arendt


Sokrates


I


»Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« Was Hegel von der Philosophie sagt, kann eigentlich nur für die Geschichtsphilosophie gelten. Es gilt für die Geschichte und entspricht der Perspektive der Historiker. Hegel kam natürlich zu dieser Formulierung, weil er glaubte, die eigentliche Philosophie habe in Griechenland erst mit Platon und Aristoteles begonnen – und diese schrieben, als die Polis und die ruhmreiche Zeit der griechischen Geschichte bereits am Ende waren. Heute wissen wir, dass Platon und Aristoteles nicht den Beginn, sondern den Höhepunkt des griechischen Philosophierens darstellen. Und dieses hatte seinen Flug begonnen, als Griechenland seinen Höhepunkt erreichte oder kurz davor stand. Doch wurden Platon und Aristoteles zum Beginn der abendländischen philosophischen Tradition, und dieser Beginn – im Unterschied zum Anfang des griechischen Philosophierens – trat in der Tat ein, als das lebendige politische Leben Griechenlands schon seinem Ende entgegenging. In der gesamten Tradition des philosophischen und insbesondere des politischen Denkens ist vielleicht kein Umstand von solcher Bedeutung und von so großem Einfluss gewesen wie der, dass Platon und Aristoteles im vierten Jahrhundert schrieben – also unter dem massiven Einfluss einer politisch verfallenden Gesellschaft.

Es stellte sich nämlich das Problem, wie der Mensch der Polis auch außerhalb der Politik