Denk mal einen Moment über dieses moralische Problem nach, sagt Georges Mutter zu George, die vorn auf dem Beifahrersitz sitzt.
Nicht sagt. Sagte.
Georges Mutter ist tot.
Was für ein moralisches Problem?, sagt George.
Der Beifahrersitz in dem Mietwagen ist ungewohnt, er befindet sich nämlich auf der Seite, auf der zu Hause der Fahrersitz ist. Ungefähr so wird es sein, wenn sie selber fährt, nur dass sie, Sie wissen schon, eben nicht selber fährt.
Also gut. Du bist Künstler, sagt ihre Mutter.
Ich?, sagt George. Seit wann? Und ist das ein moralisches Problem?
Haha, sagt ihre Mutter. Mir zuliebe. Stell es dir vor. Du bist Künstler.
Das Gespräch findet vorigen Mai statt, da lebt Georges Mutter noch, offensichtlich. Tot ist sie seit September. Jetzt ist Januar, genauer gesagt, kurz nach Mitternacht am Neujahrstag, was bedeutet, es ist gerade das Jahr nach dem Jahr geworden, in dem Georges Mutter gestorben ist.
Georges Vater ist nicht da. Das ist besser, als wenn er zu Hause ist und weinerlich in der Küche steht oder durchs Haus tigert und Geräte aus- und anschaltet. Henry schläft. Sie ist gerade zu ihm rein und hat nachgesehen; er ist eingeschlafen, obwohl nicht in dem Sinne, in dem manche Leute das Wort verwenden, wenn sie sagen, jemand ist für immer eingeschlafen, Sie wissen schon, tot.
Das wird das erste Jahr seit dem Jahr, in dem ihre Mutter auf die Welt kam, dass ihre Mutter nicht mehr lebt. Das ist so offensichtlich, dass es dämlich ist, daran auch nur zu denken, und doch so schrecklich, dass man nicht nicht daran denken kann. Beides zugleich.
Jedenfalls verbringt George die ersten Minuten des neuen Jahrs damit, nach einem alten Song zu suchen. Let’s Twist Again. Text von Kal Mann. Der Text ist ziemlich schwach. Let’s twist again like we did last summer. Let’s twist again like we did last year. Dann folgt ein Reim, der ist echt lausig, ein Reim, der genau genommen keiner ist.
Do you remember when
Things were really hummin’.
Hummin’ reimt sich nicht auf summer, die Zeile endet nicht mit Fragezeichen und könnte, genau genommen, sogarerinnerst du dich daran, als alles echt gestunken hat bedeuten.
Dann weiter: Let’s twist again, twisting time is here. Oder, so steht es überall auf den Seiten im Internet, twistin’ time.
Immerhin haben sie einen Apostroph gesetzt, sagt die George von vor dem Tod ihrer Mutter.
Es ist mir scheißegal, ob eine Seite im Internet auf grammatische Richtigkeit achtet, sagt die George von danach.
Bei diesem Vorher und Nachher geht es ums Trauern, heißt es immer. Das Trauern verläuft angeblich in mehreren Phasen. Wie viele Trauerphasen es gibt, ist umstritten. Es sollen drei oder fünf sein, manche behaupten auch sieben.
Der Songschreiber hat sich über den Text, wie es aussieht, keine großen Gedanken gemacht. Vielleicht steckte er auch gerade in einer der drei, fünf oder sieben Trauerphasen. Phase neun (oder dreiundzwanzig oder hundertdreiundzwanzig oder ad infinitum, denn nichts wird jemals nicht wieder so sein): In der Phase macht man sich keine Gedanken mehr darum, ob Songtexte einen Sinn haben. Man wird die Songs sogar fast alle hassen.
George braucht aber einen Song, zu dem man diesen einen Tanz tanzen kann.
Dass er so offensichtlich wirr und sinnlos ist, ist zweifellos ein Plus. Genau deshalb wird er sich damals so gut verkauft haben und so eine große Sache gewesen sein. Die Leute mögen es, wenn es nicht zu sinnvoll ist.
Meinetwegen, stell ich es mir halt vor, sagt George auf dem Beifahrersitz vorigen Mai in Italien zu genau der gleichen Zeit, zu der George im darauffolgenden Januar zu Hause in England auf einen sinnlosen alten Songtext stiert. Vor dem Autofenster erstreckt sich um sie herum Italien, so heiß und gelb, als wäre es sandgestrahlt worden. Henry sitzt leise schniefen