Prolog: Streit über den Tod hinaus
1. »Der Wagenlenker Israels ist gefallen«
»Verehrter Vater, wollet ihr auf Christum und die Lehre, wie ihr sie gepredigt, beständig sterben?« Ja, heißt es zum letzten Male mit klarer Stimme. Als Martin Luther in der Nacht zum 18. Februar 1546 in Eisleben, fern von zu Haus, im Sterben lag, mußte er sogar im individuellsten und privatesten Akt des Menschen noch einmal öffentlich auftreten. In Anwesenheit eilig herbeigerufener Zeugen rüttelt ihn sein langjähriger Vertrauter, Justus Jonas, jetzt Pfarrer in Halle, am Arm, um den Geist zur letzten Anstrengung zu reizen. Ein ›schönes Stündlein‹ hatte Luther sich schon immer von Gott erbeten: Dem letzten und bittersten Feind, dem Satan, im Vertrauen auf den Herrn über Leben und Tod zu widerstehen, ist gottgeschenkte Befreiung von der Tyrannei der Sünde und verwandelt Agonie in einen kurzen Schlag.
Doch jetzt geht es um weit mehr als um das eigene Schicksal, gottgetrost im Frieden von der Welt zu lassen. Denn gelassene Beständigkeit im Sterben ist seit dem ersten Überlebenskampf während der Verfolgungen durch das antike Rom auch noch im späten Mittelalter das offenbare Merkmal der wahren Gotteskinder, der Bekenner und Märtyrer. Das Sterbebett in der Eislebener Herberge wird zur Bühne – um Luthers Bett stehen nicht nur Freunde, die Gegner lauschen mit.
Bereits im Jahr 1529 hatte sein erster ›Biograph‹, Johannes Cochläus, den verhaßten Luther in aller Öffentlichkeit auf Latein und Deutsch als den siebenköpfigen Drachen, des Teufels Ausgeburt, dargestellt. Schmähschriften hatten wiederholt über sein elend-verzweifeltes Sterben und seinen gottverlassenen Tod berichtet. Jetzt aber wurde das Ende Wirklichkeit, das die Freunde befürchtet und die Gegner ersehnt hatten. Wer wird es sein, der sein Eigentum beansprucht und heimholt, Gott oder der Teufel?
Während die einfachen Gläubigen sich den Teufelszugriff wörtlich ausmalten, war die aufgeklärte akademische Welt überzeugt, daß der Anfang der Höllenfahrt medizinisch diagnostiziert werden kann, und zwar als Herzschlag: Abrupt und ohne Vorwarnung, ohne daß die Kirche noch ihre letzte Hilfe leisten kann, zerschneidet der Teufel den Faden des ihm verfallenen Lebens. In den ersten Berichten betonen deshalb die Freunde Luthers, Melanchthon voran, daß die Todesursache eben keine plötzliche, überraschende Apoplexie gewesen ist, sondern ein allmähliches Nachlassen der Lebenskräfte: Luther verabschiedete sich vom Leben und gab seinen Geist auf in die Hände Gottes.
Beim Streit um den Tod ging es nicht nur um Luther, um Teufelsbrut oder Gottesgut, sondern zugleich um die Legitimität der Reformation. Luther ist nicht nur ihr Auslöser, der in späteren Jahren angeblich hinter den großen Wellen der Bewegung zurückblieb. Er ist auch ihr geehrter oder verfluchter, immer aber gehörter Dirigent, sei es als Prophet, sei es als Drahtzieher, bis in seine letzten Tage und weit über seinen Tod hinaus. Für Freund und Feind war sein Tod mehr als ein Lebensende. Deshalb greift Justus Jonas, kurz nachdem Doctor Martinus am 18. Februar gegen drei Uhr morgens gestorben war, eigenhändig zur Feder, um von den letzten vierundzwanzig Stunden zu berichten, und zwar nicht zuerst der Witwe, sondern dem L