: Pierre Drieu la Rochelle
: Die Komödie von Charleroi Erzählungen
: Manesse
: 9783641172206
: 1
: CHF 10.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Lebenshunger und Todessehnsucht, patriotische Gefühle und Desillusionierung: Pierre Drieu la Rochelles brillante Erzählungen spiegeln die innere Zerrissenheit des streitbaren Autors wider. Einer, der sich romantisch nach Heldentum sehnte, beschreibt hier die Absurdität des Ersten Weltkriegs und die schmerzliche Orientierungslosigkeit der Heimkehrer.

Madame Pragen, eine ehrgeizzerfressene Pariser Witwe, hat 1914 ihren schmächtigen Sohn in den Krieg geschickt, um einen Helden aus ihm zu machen. Er fiel in den ersten Tagen während eines bedeutungslosen Scharmützels im belgischen Charleroi. Im Jahr 1919 nutzt nun seine Mutter einen Besuch des Schlachtfelds, um sich vor den provinziellen Honoratioren der Stadt als Grande Dame zu inszenieren. In 'Der Hund der Heiligen Schrift' brüstet sich ein junger Veteran mit Verdun. Doch in der Kinoreihe vor ihm sitzt ein ehemaliger Kamerad ...
Auf Anhieb fasziniert der flirrende Ton des Erzählers. Seine zynische Lässigkeit, sein stetiges Abtasten der Realitäten, die umso drastischer wirkende Überzeichnung einzelner Figuren: Diese Prosastücke bieten einen schillernden Rückblick auf das Schlüsselerlebnis einer irrlichternden Generation.

Pierre Drieu la Rochelle (1893-1945) scheiterte im Politikstudium und nahm dann am Ersten Weltkrieg teil. Danach führte er ein mondänes Leben als Romancier, Essayist und Journalist. Zunächst stand er den Surrealisten und ihren linken Idealen nahe. Während des Vichy-Regimes kollaborierte er mit den Nazis. 2012 wurde er in Frankreichs prestigereichste KlassikerkollektionBibliot èque de la Pléiadeaufgenommen.

DER HUND DER HEILIGEN SCHRIFT

I

Unsere Division war seit einem Monat in einem lothringischen Wald in Ruhestellung. Es war das Privileg einer Angriffsdivision wie dieser, die immer nur schwere Einsätze und die Großoffensiven im Frühjahr und Herbst zu bestreiten hatte, sich in den entlegensten und bequemsten Winterquartieren ausgiebig zu erholen. Viele Soldaten zogen diesen Wechsel der langsamen Zermürbung in den in anonymen Frontabschnitten eingepferchten Herden1 vor. Sie wussten, dass diese Vergünstigung teuer bezahlt war, gleichwohl zeigten sie Anfang 1916 mit einer Art bitterem Stolz auf einen Claironbläser , den einzigen Mann, der von 1914 übrig geblieben war. Er war ein fröhlicher und vielleicht ahnungsloser Saufbruder. Mit seinen glasigen Augen, die sich einem klaren Blick auf die Dinge zu verweigern schienen, hatte er seine anfänglich dreitausend Kameraden massenhaft oder schubweise sterben sehen bis zum letzten, und er hatte gesehen, wie sie durch andere ersetzt wurden, von denen die meisten auch nur Passanten auf dem Weg ins Lazarett oder in den Tod waren, denn durch unsere dreitausend Stammrollennummern waren fünfzehntausend Mann gegangen.

In diesem Februar hatte sich das Korps gefräßig wiederhergestellt und strotzte vor Gesundheit mit blutgeschwellten Kompanien. Die Kraft des Waldes, in dem wir uns jeden Tag austobten, schien sich mit der Kraft des Fleisches zu vereinen, um unsere Reihen mit Köpfen, Körpern, Füßen anzufüllen.

Am Tag, als der Oberst, der an der Somme verwundet worden war, wieder zum Regiment stieß und es vollzählig auf der Place des Charmes aufmarschieren ließ, konnte sich jeder an dieser vorübergehenden Wendung des Lebens erfreuen.

Er war beliebt und geachtet, denn er hatte seinen Männern selbst Achtung und Liebe entgegengebracht. Dieser ausgezehrte kleine Mann mit seinen brennenden Augen machte schweigend die Runde durch Schützengräben oder Quartiere. Die Männer spürten, dass er ihre Erfahrung von Grund auf geteilt hatte und in jedem Augenblick mit ihnen das so quälend tiefe, menschlich komplexe Sinnieren darüber fortsetzte. Kleinigkeiten gegenüber war er gleichgültig, streng nur im Wesentlichen. Sein Leiden – denn er litt – hatte seinen Mut gestählt, aber im Innern sein Herz gerührt. Im Kreis seiner Offiziere war er wortkarg und ein wenig hochmütig, wenn er jedoch im Wald einem armen Bauern in erbärmlichem Aufzug begegnete, wurde sein Blick manchmal weich; aber er lächelte nicht, denn genauso gut hätte er sich selbst bemitleiden können. Als Berufsoffizier hatte er nicht erwartet, dass das der Krieg sein würde, diese von eintönigem Blut triefende Kaserne.

Am Abend seiner Rückkehr stand er also in der Dämmerung allein am Straßenrand, fröstelnd und steif, in seinem alten Mantel mit glanzlosen Tressen, und sah zu, wie, beflügelt vom Wunsch zu gefallen, seine drei Bataillone anrückten.

Sie marschierten, angeführt von der Sechsergruppe der Spielleute mit Trommeln und Clairons, diesem schrecklichen Kriegsinstrument. Münder und Hände lassen vor den Männern Eselshaut und Blech erschallen, menschliche Gerätschaften, so alt wie das Schwert, die dunkelstes Grollen, schrillstes Gellen aus der Tiefe der Zeiten heraufbefördern. Und da regt sich im Bauch der Männer die alte, noch immer gierige Brunst. Und doch hatte er, der Oberst, der Krieger, kein Schwert an der Seite, und seine Männer hatten ein Werkzeug geschultert, das nur außerhalb ihrer Sichtweite, in abstrakter Entfernung tötete. Seit im August 1914 durch eine einzige Maschinengewehrsalve fünfhundert seiner rot behosten Leute auf