II. Takt
»Wie viel verdient denn so ein Richter?«, fragte Renan, als sie am Sonntag darauf die Auffahrt zum Bungalow der Familie Rothenberg hinauffuhren.
»Ich denke mal, du kannst dein Brutto verdoppeln«, erwiderte Alfred, »und dann als Netto nehmen.«
»So ein Haufen Schotter dafür, dass er im großen Stil Kids verurteilt?«
»Na ja, in seiner Stellenbeschreibung wird sich das schon etwas anders lesen«, Alfred lenkte seinen Alfa vor die Doppelgarage und stellte den Motor ab, »höre ich da bei dir etwa eine Spur von Neid auf die Besserverdienenden?«
»Und das von einem Alt-68er«, spottete sie, während sie die Beifahrertür aufstieß.
»Also, so alt bin ich nun auch wieder nicht!«
»Ich bin auf jeden Fall der Meinung, dass sich die Bezahlung ein bisschen nach der Leistung richten sollte.«
»Da bin ich ganz bei dir, Müller«, erwiderte Alfred generös, wobei er sich fragte, wie wohl die Leistung eines Richters zu messen sei. Anzahl der Urteile, Anzahl der Freisprüche oder der Vergleiche? Oder Höhe der Strafen?
Der Bungalow stammte offensichtlich aus den späten 70er-Jahren. Die Fassade war mit grobem Reibeputz versehen und weiß gestrichen. Auf der Vorderseite befanden sich nur zwei kleine, dunkelbraun lasierte Holzfenster. Die große Haustür war außen mit geschichteter Bronze verkleidet. Darüber befand sich ein Oberlicht und daneben ein klobiger verkupferter Briefkasten, auf dem der Familienname prangte. Alfred hatte nach dem gestrigen Besuch seiner Kollegin beschlossen, bezüglich der Anzeige von Marion Shelley lieber keine Zeit zu verlieren. Er betätigte den Klingelknopf, doch es dauerte fast eine Minute, bis ihnen die Tochter des Richters öffnete.
Die Familie hatte sich im Wohnzimmer versammelt. Die Witwe stand vor einem spärlichen Kaminfeuer und hielt die Arme vor dem Bauch verschränkt. Ihre Hände umklammerten die Enden einer hellblauen Strickjacke. Die Ähnlichkeit zu ihrer Tochter war trotz des Altersunterschieds nicht zu übersehen, sie hatte das gleiche runde Gesicht. Der Sohn saß in einem Ledersessel und blätterte verlegen in einem Einrichtungsmagazin. Eine großzügige Fensterfront gab den Blick auf eine verlassene Terrasse frei. Dahinter lag ein Garten, etwa von der Größe eines halben Fußballfeldes. An der gegenüberliegenden Wand döste ein roter Cockerspaniel in einem Hundekorb.
Nach dem üblichen Begrüßungsritual und den Beileidsbekundungen nahmen Alfred, Renan und die Tochter auf den wuchtigen Ledersesseln Platz, die um einen Tisch aus Rauchglas gruppiert waren, während die Mutter vor dem Kamin stehen blieb.
»Frau Rothenberg«, eröffnete Alfred die Befragung, »Ihre Tochter war gestern bei meiner Kollegin im Präsidium und hat Anzeige erstattet, weil sie der Meinung ist, dass Ihr Mann ermordet wurde.«
»Stützt die Polizei ihre Ermittlungen jetzt schon auf Meinungen?«, erwiderte sie tonlos.
»Auf Hinweise«, beschwichtigte Alfred, »immerhin gibt es etliche auffällige Graffitis auf dem Arbeitsweg Ihres Mannes zum