: Friedrich Christian Delius
: Die Liebesgeschichtenerzählerin
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644121515
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Reise von fünf Tagen und durch ein ganzes Jahrhundert. Der neue Roman des Büchner-Preisträgers Eine Frau, für ein paar Tage frei von Pflichten, Mann und Kindern, fährt im Januar 1969 von Den Haag über Amsterdam nach Frankfurt. Drei Liebesgeschichten aus den Zeiten der Kriege und Niederlagen gehen ihr durch den Kopf: ihre eigene, die ihrer Eltern, die einer Vorfahrin während der napoleonischen Kriege. Davon möchte sie erzählen, aber die Geschichten und Leben verflechten sich immer mehr: ein König, der die modernen Niederlande aufbaut; seine uneheliche Tochter, die in eine mecklenburgische Adelsfamilie gezwungen wird; ihr Urenkel, der als kaiserlicher U-Boot-Kapitän die roten Matrosen von Kiel überlistet, seiner schwarzen Seele entkommen möchte und zum Volksprediger wird; seine Tochter - die reisende Erzählerin selbst -, die ein gutes deutsches Mädel und trotzdem gegen die Nazis sein wollte und nun im Schreiben Befreiung sucht neben einem Mann, lächelnder Gutsbesitzersohn und Spätheimkehrer, der sich allmählich von ihr entfernt. Dem neuen Roman von Friedrich Christian Delius liegt die bewegte Geschichte seiner eigenen Familie zugrunde. Er erzählt die Reise einer Frau zwischen Scheveningen, Heiligendamm und deutschem Rhein, eine Reise von fünf Tagen und durch ein ganzes Jahrhundert.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

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Schreib das, schreib uns das, Marie, forderten die Stimmen, weither vom Meer wehende Stimmen, leiser als die in der Ferne lärmenden Wassermassen, unregelmäßiger als der Takt der Wellen, schmeichelnder als der Wind in den Ohren der Frau, die auf einer Bank der Strandpromenade von Scheveningen saß, den tiefen Atem übte und sich nicht wunderte über das, was sie da hörte –

 

Schreib das, schreib das auf, in dem raunenden Chor meinte sie auch die Stimme ihres Vaters zu erkennen, des kleinen Kapitäns, des alten Kadetten, wie sie ihn nannte, natürlich musste er hier am Meer, das sein Element war, wieder mitreden und mitflüstern, das ist was für dich, die Geschichte des Prinzen und seiner Liebschaft –

 

Eine Möwe wischte nah vorbei, noch eine zweite, die Frau im dunkelgrauen Wintermantel, mit bescheidenem Hütchen, blieb ruhig sitzen, sehr konzentriert, den Kopf gereckt wie im Konzert, sie horchte den fernen Stimmen nach, ließ den Blick weit hinaus über das bleistichige Meer zum Horizont streifen und hörte und lauschte in die eigene Stimme hinein –

 

In den eigenen Entschluss hinein, den Schatz dieser Geschichte zu heben, auftauchen zu lassen aus den Wellen der Vergangenheit, sie war ein bisschen stolz auf die Formulierung Wellen der Vergangenheit und überlegte, ob das ein Zitat war oder eine frische Erfindung, angeregt von der herrlichen Salzluft auf der Strandpromenade, von den Wellen wurden sie angetrieben, die alten Geschichten, aus den Wellen tauchten sie auf –

 

Du schreibst das jetzt, Marie, egal, was die andern wollen, sagte sie halblaut zu sich selbst, während ihr Blick an einem Schiff festhielt, einem winzigen Punkt am Horizont, und sagte es noch einmal, da niemand in ihrer Nähe war, in normaler Lautstärke: du schreibst das jetzt, als wollte sie damit die Aufforderungen der fernen Stimmen vertreiben, die Einmischungen des Kapitänvaters und der Verwandten und Freunde waren überflüssig und störend, solchen gutgemeinten Zuspruch brauchte sie nicht, suggestive Befehle schon gar nicht, der Plan war ihr eigener seit vielen Jahren –

 

Endlich, kurz vor der runden Fünfzig, konnte sie sich Zeit dafür nehmen, konnte sie sich leisten zu schreiben, nach einer spürbaren Gehaltserhöhung ihres Mannes und einer winzigen Erbschaft war die finanzielle Lage für die sechsköpfige Familie etwas weniger angespannt, endlich Schluss damit, kostbare Stunden mit dem Tippen von Doktor- und Examensarbeiten für ein bisschen Zuverdienst zu verschwenden –

 

Endlich war alles bereit, sie musste nur die Erwartungen der anderen, den Chor der fernen Stimmen aus dem Kopf verbannen, sie wollte die eigene Stimme finden und schaffte es endlich, immer stärker und klarer diese eigene Stimme zu hören im fernen Wellengetöse, es lag allein an ihr –

 

Und an dem Stoff, durch den sie sich, nun den zweiten Tag, im Den Haager Archiv gegraben hatte, ein Stoff, der viele Leute interessieren wird, der Skandal, die große Liebe, höfische Intrigen, der Held ein Prinz, der später der erste König der Niederlande wird, die Heldin eine tanzende Bäckerstochter, deren Kind die Urgroßmutter des Kapitänvaters wird, und alles vor dem malerischen Hintergrund der Historie, in Berliner und niederländischen Palästen, auf mecklenburgischen Gütern –

 

Die Geschichte deiner im Staub der Akten versteckten, geheimnisvollen Ururgroßmutter, die wirst du zu Papier bringen, niemand anders als du, die Geschichte nimmt dir keiner, sagte sie sich, Fontane hat auch erst in deinem Alter angefangen, gleich nächste Woche den Handlungsplan, mit den neuen Fun