Heiliger Vater, können Sie uns sagen, wann in Ihnen der Wunsch entstanden ist, ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit auszurufen? Woher haben Sie die Inspiration genommen?
Da gibt es keinen bestimmten Punkt. Die Dinge kommen mir immer irgendwie von selbst. Es sind die Dinge des Herrn, die ich im Gebet hüte. Ich habe mir angewöhnt, nie der ersten Reaktion zu folgen, wenn mir eine Idee kommt oder mir jemand einen Vorschlag macht. Ich bleibe hier immer auf der Hut, denn gewöhnlich ist diese erste Reaktion falsch. Ich habe gelernt zu warten, mich dem Herrn anzuvertrauen, um seine Hilfe zu bitten, um klarer zu sehen und mich führen zu lassen.
Die zentrale Stellung der Barmherzigkeit, die für mich die wichtigste Botschaft Jesu ist, hat sich in meinem Leben als Seelsorger ganz allmählich herauskristallisiert, eigentlich als Konsequenz meiner Erfahrung als Beichtvater, aus den vielen positiven und schönen Geschichten, die ich dabei zu hören bekommen habe.
Schon im Juli 2013, wenige Monate nach dem Beginn Ihres Pontifikates, während der Rückreise aus Rio de Janeiro, wo man den Internationalen Weltjugendtag gefeiert hat, haben Sie gesagt, dass unsere Zeit die »Zeit der Barmherzigkeit« sei?
Ja, ich glaube, dass diese Zeit die Zeit der Barmherzigkeit ist. Die Kirche zeigt der verletzten Menschheit ihr mütterliches Antlitz, ihr Mama-Gesicht. Sie wartet nicht, bis die Verwundeten an ihre Tür klopfen, sondern geht hinaus auf die Straße, um sie zu suchen, aufzusammeln, zu umarmen, zu heilen und dafür zu sorgen, dass sie sich geliebt fühlen. Ich habe damals gesagt – und ich bin heute noch überzeugter davon –, dass dies einkairós ist, ein günstiger Zeitpunkt. Unsere Epoche ist einkairós für die Barmherzigkeit, eine dafür passende Zeit. Als JohannesXXIII. feierlich das 2.Vatikanische Konzil eröffnete, sagte er: »Heute aber möchte die Braut Christi lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden als die Waffe der Strenge erheben.« In seinenGedanken über den Tod offenbarte der selige PaulVI. die Grundlage seines geistigen Lebens in den Worten des heiligen Augustinus: Erbärmlichkeit (miseria) und Barmherzigkeit (misericordia). »Meine Erbärmlichkeit«, schrieb PaulVI. – »und Gottes Barmherzigkeit. Könnte ich dich doch wenigstens als den ehren, der du bist, dich wenigstens ehren können, wer du bist, den Gott unendlicher Güte, indem ich deine liebevolle Barmherzigkeit anrufe, annehme und feiere.« Der hl. Johannes PaulII. ist diesem Weg weiter gefolgt mit seiner EnzyklikaDives in misericordia (Über das göttliche Erbarmen), in der er unterstreicht, dass die Kirche ein authentisches Leben lebt, wenn sie das Erbarmen bekennt und verkündet, das am meisten überraschende Attribut des Schöpfers und des Erlösers, und wenn sie die Menschen zu den Quellen des Erbarmens führt. Darüber hinaus hat er den »Barmherzigkeitssonntag« eingeführt und der Gestalt der hl. Faustina Kowalska sowie den Worten des barmherzigen Jesus besondere Ehre erwiesen. Auch Papst BenediktXVI. hat darüber gesprochen: »Die Barmherzigkeit ist in Wirklichkeit der Wesenskern der Botschaft des Evangeliums, sie ist der Name Gottes selbst, das Antlitz, mit dem er sich im Alten Bund und vollends in Jesus Christus offenbart hat, der menschgewordenen Schöpfer- und Erlöserliebe. Diese erbarmende Liebe erhellt auch das Antlitz der Kirche, und sie wird durch die Sakramente, insbesondere durch das Sakrament der Versöhnung, wie auch durch die gemeinschaftlichen und individuellen Werke der Nächstenliebe sichtbar.«
Doch in meinen persönlichen Erinnerungen gibt es auch zahlreiche andere