»Joe, noch einen für die Träume Drei Zehner für das ›Baby Blue‹ Denn ›Baby Blue‹ ist so wie du, Marlene Drei Minuten sind doch gar nichts Joe, mach den Laden noch nicht zu Nur einen noch, dann geb ich Ruh«
Hans Hartz, »Joe, noch einen«
Es war ein ganz gewöhnlicher Dienstag im Herbst 1994. Und obwohl an diesem Tag nichts Besonderes auf der Welt geschah, werde ich ihn wohl nie mehr vergessen. Denn von einem Moment auf den anderen sollte sich meine eigene Welt auf den Kopf stellen. Ich leistete zur damaligen Zeit gerade meinen achtzehnmonatigen Zivildienst in einer integrativen Einrichtung am Universitätsklinikum der Hansestadt Lübeck ab. Neben ambulanten Kindern mit Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten betreuten wir dort tagsüber auch Patienten der unterschiedlichsten Stationen, um ihnen den Krankenhausalltag ein wenig abwechslungsreicher zu gestalten. Eines dieser Kinder hatte ich besonders ins Herz geschlossen. Tommy war ein neunjähriger Junge, der wegen eines Hirntumors auf der Kinderkrebsstation lag. Er war bereits mehrfach operiert worden und hatte keine Haare mehr auf dem Kopf. Dafür bedeckten zwei riesige Narben seinen kahlen Schädel. Äußere Spuren des verzweifelten Kampfes der Ärzte gegen die tückische Krankheit. Doch der Krebs war bereits so weit fortgeschritten, dass Tommy diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Eine Sache war jedoch bemerkenswert. Trotz der erschütternden Diagnose war dieser tapfere Junge das fröhlichste Kind der ganzen Einrichtung. Mit einer ansteckenden Leidenschaft schnitzte er kleine Figuren an der Werkbank, puzzelte stundenlang vor sich hin, oder übte Stücke von Herbert Grönemeyer auf der Gitarre. Und wenn er dann irgendwann zu erschöpft war, liebte er es, wenn ich ihm eines der Abenteuer von Asterix und Obelix vorlas.
Tommys unbändige Lebensfreude faszinierte mich. Er hätte jeden Grund der Welt gehabt, niedergeschlagen zu sein. Er war es jedoch nicht. Stattdessen lachte er viel, hatte stets gute Laune und steckte die anderen Kinder mit seinem Mut an. Doch gleichzeitig verschlechterte sich sein körperlicher Zustand rapide und es gab Tage, wo ich Tommy gar nicht mehr sah. Aber an besagtem Dienstag saß er wieder auf meinem Schoß und wir lasen gemeinsamAsterix in Spanien. Alles war eigentlich wie immer, doch als wir an seiner Lieblingsstelle angelangt waren (für Insider: dort, wo der kleine Pepe die Luft anhält, weil er keinen Fisch essen will), sagte Tommy fast schon beiläufig einen Satz zu mir, den ich nie vergessen werde: »Ilja, ich weiß, dass ich bald sterben werde. Aber ich habe keine Angst, weil der liebe Gott auf mich aufpasst. Ich find’s übrigens super, dass du mir immer so viel vorliest. Die Pfleger haben da nie Lust zu. Als Dankeschön schnitze ich dir morgen einen Talisman an der Werkbank.« Obwohl ich in dem Moment heftig mit den Tränen zu kämpfen hatte, zwang ich mich, mir nichts anmerken zu lassen. Stattdessen sagte ich nur: »Cool, da freue ich mich.« Dann las ich ganz normal weiter, bevor wir uns kurz darauf wie üblich mit einem High five verabschiedeten. Den Talisman habe ich nie bekommen, denn zwei Tage später ist Tommy gestorben.
Mit meinen neunzehn Jahren hatte ich damals lange an dieser Erfahrung zu knabbern. Doch instinktiv begriff ich, dass mir dieser kleine, tapfere Knirps trotz der tragischen Umstände ein ganz besonderes Geschenk gemacht hatte. Aus dieser Begegnung habe ich mehr über Motivation gelernt als aus allen Büchern, Seminaren und Vorträgen in den vielen Jahren danach zusammen. Mit seiner Einstellung und seinem unbändigen Lebensmut hatte Tommy mir nämlich gezeigt, dass ein einzelner Mensch einen gewaltigen Unterschied machen kann, auch wenn sämtliche Umstände gegen ihn zu sprechen scheinen. Von ihm habe ich gelernt, dass ein kleiner Junge ein Vorbild sein kann, das uns vormacht, wie es geht, die Welt aus den Angeln zu heben und nachhaltig zu verändern. Gerade weil er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, kostete er jeden einzelnen Moment aus und lebte mit einer Intensität, die auf sämtliche Kinder und Erwachsene in seiner Umgebung ansteckend wirkte.
Und auch wenn Tommy natürlich viel zu früh verstorben ist, bin ich heute immer noch dankbar dafür, dass ich durch ihn eine wichtige Lektion lernen durfte. In einer Art naivem Ritual schwor ich mir damals, dass ich mein Leben voll und ganz auskosten würde. Ich nahm mir vor, erfolgreich zu werden, Karriere zu machen und all das zu erleben, was Tommy verwehrt geblieben war. Ich hatte zwar überhaupt keine Vorstellung, was ich dafür tun musste, aber im Nachhinein weiß ich, dass es einer dieser Wendepunkte war, die für den Verlauf meines weiteren Lebens entscheidend waren. Und auch heute noch zehre ich von dieser Begegnung. Denn immer, wenn ich mich mal wieder über irgendeine unwichtige Kleinigkeit aufregen will, erinnere ich mich daran, wie dankbar wir sein sollten, dass wir gesund sind und einen weiteren Tag die Gelegenheit haben, die Welt ein kleines Stückchen besser zu verlassen, als wir sie vorgefunden haben.
An dieser Stelle möchte ich Sie ganz herzlich begrüßen, liebe Leserinnen und liebe Leser. Ich freue mic