Ende der Sechzigerjahre, Anfang der Siebziger – also in den Jahren, die heute als die »gute alte Zeit« gelten – war die Wirtschaft robust und nahm nach dem Wirtschaftswunder weiter Fahrt auf. Der Wohlstand festigte sich, die Nachkriegsjahre waren fast überwunden, doch einige Gewohnheiten und Werte aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich gehalten. So galt Butter damals neben der D-Mark noch immer als eine Art Währung.
In dieser Zeit wuchs ich in einer Gemeinde mit gut 5000 Einwohnern im Südwesten Deutschlands auf. In unserem Ort gab es einige Familien mit unserem Namen, die meisten hatten Handwerksberufe, einige ein kleines oder mittelständisches Geschäft. Zur besseren und einfacheren Unterscheidung wurde dem Familiennamen einfach der Beruf vorangestellt. So gab es einen Baustoff-Scheible, einen Maler-Scheible und einen Schlosser-Scheible. Und es gab einen Boxer-Scheible, der verdankte seinen Namen allerdings nicht seinem Beruf, sondern seinen Hunden. Meine Eltern betrieben ein für die damalige Zeit typisches Lebensmittelgeschäft. Etliche Waren, wie Mehl, Zucker, Obst und Nüsse oder auch Sauerkraut, lagerten lose in großen Behältern und wurden erst beim Kauf abgewogen und dann verpackt. Die Milch kam noch aus großen Kannen und wurde in Milchkannen abgefüllt, die die Kunden selbst mitbrachten. Das brachte uns unseren »Hausnamen« ein: Wir waren bekannt als »Milcher-Scheible«. Jeder aus unserer Familie wurde so genannt.
Das Geschäft meiner Eltern war im Ortskern, nahe dem Marktplatz, der Apotheke und anderen Geschäften und somit fester Bestandteil der örtlichen Versorgung und zugleich ein kommunikativer Treffpunkt. Es kam öfter vor, dass Leute, hauptsächlich Hausfrauen, vorbeikamen und sich gleich nach dem Betreten des Ladens nach dem Butterpreis erkundigten. Die meisten erledigten dann ihren Einkauf, einige jedoch ohne tatsächlich Butter zu kaufen. Und manchmal kam es vor, dass die Frauen einfach wieder gingen – ohne etwas zu kaufen. Als kleiner Junge fand ich das seltsam, bis mir mein Vater eines Tages erklärte: »Die Butter ist eine Art Währung. Viele Menschen bemessen allein anhand des Butterpreises, ob wir teuer oder günstig sind. Sie glauben, wenn die Butter bei uns teurer ist als in einem anderen Geschäft, ist bei uns alles andere auch teurer.« Ich verstand: Lag also der Butterpreis über dem normal üblichen Preisniveau, musste man nach dieser Logik auch für alles andere mehr bezahlen – und somit war der ganze Laden teuer. Der Preis für die Butter war ein Referenzpreis.
Die Butterwährung war ein Barometer für teuer oder günstig.
So lief es eine ganze Zeit lang. Den lokalen Markt teilten sich mehrere kleine Einzelhandelsgeschäfte. Doch eines Tages wurde in unserer Gemeinde der erste Supermarkt gebaut, und zwar gleich um die Ecke von unserem Laden, nur etwa 150 Meter entfernt. Als er eröffnete, änderte sich das Einkaufsverhalten der Kundschaft meiner Eltern merklich. Und auch das Verhalten meines Vaters änderte sich: Von nun an studierte er aufmerksam die wöchentlichen Sonderangebote des Supermarkts. Eines Tages sagte mein Vater: »Jetzt verkaufen die Butter noch unter dem Einkaufspreis!« – Damit meinte er den Preis, den er für die Butter bezahlte. – »Die legen bei jedem Stück, das sie verkaufen, noch drauf. Das kann nicht gut gehen!« Daraufhin schmiedete ich einen Plan und trommelte ein paar Freunde zusammen: Mit meinem erarbeiteten und ersparten Geld gingen wir in den Supermarkt, um so viel Butter zu kaufen, wie wir konnten, viel mehr, als erlaubt war. Ich erinnere mich, dass jeder Kunde nur drei oder vier Stück Butter kaufen durfte. Deshalb brauchte ich ja auch meine Freunde für diese Aktion. Die Butter brachten wir dann voller Stolz zu meinem Vater.
Hinter meiner Aktion stand folgende Überlegung: Zum einen würde mein Vater Geld sparen, wenn ich ihm die Butter bil