Tag 1 – Die Vision
09.02.2015
Seit fünf Wochen lebe ich in einem Schockzustand. Mein Leben, wie ich es bisher gekannt habe, gibt es nicht mehr. Ich lebe jetzt allein. Ich habe noch nie allein gelebt. Dreißig Jahre lang habe ich mein Leben geteilt mit einem Menschen, der mir jetzt fremd ist, dem ich jetzt fremd bin. Ich kenne mich nicht mehr. Aber das ist noch das Geringste. Ich lebe in einer Betäubung, in einem Zustand der Gewalt, die ich gegen mich selbst richte – und es war mir lange Zeit nicht bewusst. Ich habe es nicht bemerkt. Ich habe nicht bemerkt, was ich mir antue. Erst jetzt, wo ich nicht mehr höre, wo meine Ohren taub sind und ich von der Umwelt abgeschnitten bin. Jetzt wache ich auf. Als wäre ich eingefroren gewesen, seit ... ja seit wann ... ?
Ich habe eine Vision. Ich weiß es, auch wenn ich sie nicht benennen kann. Ich kenne das Wesen von Visionen. Sie kommen, ohne dass sie gerufen werden. Plötzlich sind sie da. Mehr noch: Wir haben immer eine Vision, auch wenn wir nicht immer den Zugang dazu haben. Aber ich beharre darauf: Ich habe eine Vision. Vor zwei Wochen noch wollte ich sterben, ich war fest entschlossen. Der Schmerz, den anderen Menschen zu verlieren, mit dem ich mein Leben geteilt habe, war so groß. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne ihn zu leben. Und vielleicht bin ich jetzt tot. Und habe es nur noch nicht bemerkt. Und wenn ich tot bin, wie komme ich dazu, von einer Vision zu reden? Es ist nur der eine Satz, der plötzlich da war, mit der Aufforderung, ein Buch zu schreiben.
Etwas, was für mich Leben bedeutet.
Schreiben bedeutet Leben und ich schreibe jetzt, um zu überleben. Ich habe nur diesen einen Satz. Es ist keine große Leidenschaft in diesem Satz. Er ist nur da, wie mein Atem. Der Satz und der Text, der sich schreibt, während ich atme. Ohne Leidenschaft. Es ist nur Leben.
Nehmt mich – tut mit mir, was ihr wollt. Ich habe nichts mehr zu verlieren.
Visionen haben Vorboten, wie diesen einen Satz. Sie schicken ihren Äther voraus wie zarte Fühler, wie den Flaum eines Kükens, der meine Wange berührt. Ich warte auf diese Vision und ich kann auch sagen, warum. An jenem Tag, an dem ich bereit war zu sterben – als ich starb – habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich habe einen Schwur abgelegt. Das war nichts Absichtsvolles, nichts Geplantes. Nichts, was mir als Rettung dienen sollte. Es kam aus den Tiefen eines mir bis dahin unbekannten Seins. Eine Stimme, die sprach, die ich nicht als meine erkannt habe, und die doch meine Stimme war. Ich habe ein Versprechen abgegeben. Ich habe mein Leben einer Instanz übergeben, die ich nicht kenne.
Ich habe geschworen: Wenn ihr eine Aufgabe für mich habt, ich bin da. Sagt mir, wo es lang geht, denn ich habe den Weg verloren. Ich habe keinen Weg mehr. Mein Leben ist zu Ende. Wenn es noch einen Grund gibt, warum ich hier auf dem Planeten Erde bleiben soll, zeigt ihn mir. Dieses Versprechen, das aus einem unbekannten Teil meiner selbst kam, war die Initiation. Ich werde diesen Tag nie vergessen.
Er war das Ende meines bisherigen Lebens und der Anfang eines neuen.
Ich habe das Tor geöffnet, um zu dienen. Denn das habe ich mein Leben lang getan. Ich habe gedient, meinem Lebensgefährten, meinen Kindern, meinen Büchern, meinen Tieren, vielen Menschen. Jetzt, wo ich ihnen nicht länger dienen kann, diene ich etwas, das ich noch nicht kenne. Etwas Unbekanntem. Ich bin ein Werkzeug.
Seit fünf Wochen warte ich darauf, dass die Taubheit aus meinen Ohren verschwindet und ich weiß, dass sie zusammenhängt mit der Vision. Ich muss die innere Kraft finden, um die Vision tragen zu können. Die Vision ist weit entfernt von den alltäglichen Ereignissen. Sie hat nur wenig mit ihnen zu tun. Sie kommt aus einer anderen Quelle. Und doch stimmt es nicht ganz, dass sie nur wenig mit dem Alltag zu tun hat. Der Alltag ist ein präzises Abbild vom Nahen der Vision, von den Hin- und Herbewegungen, dem Annähern und dem Rückzug. Aber die Quelle ist weit jenseits des Alltäglichen. Heute ist die Taubheit in meinen Ohren ein Stück aufgegangen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wieder etwas hören zu können. Die Welt rückt wieder näher, ist wieder greifbarer.
Meine innere Kraft wächst, weil ich zur Wahrheit erwache. Ich fange an, klar zu sehen, was passiert. Ich kann wieder Wahrheit von Lüge unterscheiden. Das konnte ich lange nicht. Ich war bei einem Ohrenarzt. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr hören kann, seit ich einen schweren Schicksalsschlag erlitten habe. Er sagte, mein Hörverlust sei ein Hörverlust, ob