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Die Vernunft sagte ihr, dass sie mit jemandem reden sollte, mit einem Menschen, der Verständnis für ihre Situation hatte, aber die Kraft, jemanden anzurufen, konnte sie nicht aufbringen. Ihr Verstand sagte ihr auch, dass dieser jemand auf keinen Fall Cowboystiefel aus türkisenem Krokodilleder trug.
Der Wind tanzte mit dem Windspiel, das im Apfelbaum hing und ließ ein engelsgleiches Geräusch erklingen. Valerie biss in das Fleisch einer Orange, leckte sich die Finger ab und hatte das Gefühl, die Orange wäre türkis.
Nun, da Miriam nicht mehr da war, fiel ihr erst auf, dass sie ihre Freundschaften seit Jahren hatte verkommen lassen und dass es so gut wie keinen vertrauten Menschen in ihrem Leben gab. Niemand rief sie an, um sie zu fragen, wie es ihr ging. Fünf Kondolenzkarten hatte sie erhalten, eine von Miriams Schulklasse, drei von entfernten Freundinnen und eine vom neuen Pfarrer der Gemeinde, den sie noch nie gesehen hatte.
Miou sprang auf ihren Schoß, rückte ihre Gliedmaßen einer unsichtbaren Geometrie folgend zurecht, und ließ alle Anspannung fallen. “Du bist die Einzige, die ich noch habe“, sagte Valerie und strich über das graue Fell. Am Nachmittag gab sie dem Klingeln des Telefons erneut nach. “Wir haben seit Wochen nichts von dir gehört.“ Es war ihre Schwester Tamara mit der Reibeisenstimme.
“Ich von dir auch nicht“, erwiderte Valerie schwach.
“Bist du okay?“, fragte Tamara.
“In jeder Hinsicht“, erwiderte Valerie.
“Kannst du einen Kuchen mitbringen? Besser zwei. Einen mit Buttercreme und Alkohol und etwas Trockenes für die Kinder, das sie in die Hand nehmen können." Valeries Blick fiel auf den Kalender. Welcher Tag war heute?
“Du kommst doch?“
Wenn ich bis dahin nicht auf einem Hexenbesen davongeflogen bin, dachte Valerie. Der Gedanke an den Geburtstag ihrer Mutter im Familienkreis kam ihr so fremdartig vor wie die Landung eines Raumschiffes auf einem Kuchenteller.
“Wie geht es dir? Du weißt, ich will die Wahrheit hören. Ich weiß sowieso, was los ist.“
Einen Augenblick lang überlegte Valerie, ob sie Tammy von der multiplen Erscheinung des NamensGitanes und dem Hufkratzer erzählen sollte, der eine Verbindung ins Totenreich darstellte.
“Es geht mir wie immer, ganz gut“, sagte sie dann.
“Lüge.“
“Lass mich in Ruhe, Tammy. Ich bin okay.“
“Es wird dir gut tun, unter Menschen zu kommen.“
Sicher, dachte Valerie.
“Um halb eins gibt es Mittagessen … Trägst du schwarz?“
“Nein.“
“Arbeitest du?“
“Alles ist in bester Ordnung, Tammy.“ Mit einem Knall legte sie den Hörer auf.
Sie dachte daran, dass sie Miriam immer mit Reitstunden hatte erpressen müssen, damit sie mit zu den Familienfesten kam. Zehn Reitstunden für den Geburtstag von Tante Leonie letztes Jahr. Valerie schämte sich bei dem Gedanken daran. Niemand sieht mich dort und niemand hört mich, hatte Miriam sich beklagt. Sie behandeln mich, als wäre ich unsichtbar.
Valerie verbrachte den Rest des Tages damit, Zutaten für einen Zitronenkuchen und eine Schwarzwälder Kirschtorte zu besorgen. Während sie Mehl, Backpulver und Zucker auf dem Backbrett ausbreitete, hörte sie Miriams Stimme, als stünde Miriam neben ihr auf einem Hocker, würde Zucker und Mehl abwiegen und Eier aufschlagen. “Das Mehl ist der Drache, der die Eier legt. Er füttert die Eier mit Backpulver, damit sie groß und stark werden.“ Sorgfältig legte Valerie die Dotter in die Kuhle. “Dann pustet er Zucker auf die Eier, damit sie auch ein bisschen was zu naschen haben.“
Valerie bereute zutiefst, dass sie zugesagt hatte. Sie wusste, dass ihre Familie Miriams Tod nicht aushalten konnte, und alles tun würde, um einen Schuldigen – und eine Erklärung – zu suchen. Sie würden irgendetwas Hässliches sagen. Valerie zerschnitt mit dem Messer die Butter wie der Drache, der gegen ein Feuer speiendes Ungeheuer kämpft.
Während sie das Backbrett attackierte, fiel ihr die verrückte Frau mit den Krokodillederstiefeln wieder ein. Vale