3. Welche gesellschaftlichen Entwicklungen fordern die Seelsorge heraus?
Befunde und Bedarfe3
(Ingo Habenicht)
3.1 Veränderte Lebenswelten schaffen veränderte Lebenslagen
Lebenslagen verändern sich, wenn Lebenswelten sich verändern. Umwälzende Entwicklungen haben Konsequenzen für die Gesellschaft und das Individuum. Seelsorge hat damit verantwortungsvoll umzugehen.
Wahlbiografien statt Normalbiografie, Veränderungen in Familien und Haushalten
Der Prozess zunehmender Individualisierung hat dazu geführt, dass an die Stelle vorgeprägter Lebensläufe, die einer »Normalbiografie« folgten, vielfältige »Wahlbiografien« getreten sind. Die klassische, bürgerliche (Klein-)Familie ist durch eine Pluralität von Lebensformen abgelöst worden. Feste Bilder lösen sich auf, neue Wertvorstellungen entstehen, Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsnotwendigkeiten nehmen zu. Der einzelne Mensch lebt mit der Chance und zugleich mit dem Risiko, die eigene Biografie selbst entwerfen und realisieren zu müssen. Seelsorge hat es deshalb zunehmend mit Menschen zu tun, die mit Identitäts-, Entwicklungs- und Entscheidungsfragen beschäftigt und deshalb auch häufig verunsichert sind; sie muss Menschen in Suchbewegungen ergebnisoffen beraten und in einer »Risikogesellschaft« stärken.
Globalisierung und Mobilität
Die Globalisierung der Wirtschaft verbindet sich für den Einzelnen mit einem Zwang zur Mobilität. Von der Bereitschaft zu Ortsveränderungen hängen in hohem Maße die Chancen auf Zugang zur Erwerbsarbeit und der Erhalt des Arbeitsplatzes ab. Familiäre und weitere private Beziehungen müssen dahinter oft zurückstehen. Seelsorge hat es dadurch zunehmend mit Menschen zu tun, die an dem Ort, an dem sie leben, nicht zuhause sind oder sich dort nicht zuhause fühlen, häufig auch den Lebensschwerpunkt wechseln. Das erschwert Zugänge zur Seelsorge über ortsgemeindliche Strukturen und erfordert andere Kontaktmöglichkeiten.
Ökonomisierung und Existenzangst
Infolge der weltweiten Ökonomisierung und des damit einhergehenden permanenten Rationalisierungsdrucks wachsen bei vielen Menschen Sorgen um die eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse bis hin zu Existenzangst. Seelsorge wird sich also einstellen auf Menschen mit sozialen Ängsten, die sich von Armut bedroht erleben und die erfahren, dass sie auf die Umstände ihres Lebens wenig Einfluss haben.
Zunehmende Armut
Negative Begleiterscheinungen der beschriebenen Entwicklungen sind auch Gehälter unterhalb des Existenzminimums, die durch Sozialleistungen aufgestockt werden müssen, sowie eine zunehmende Armut von Teilen der Bevölkerung. Armut geht einher mit massiven Einschränkungen der gesellschaftlichen Teilhabe, mit Ausgrenzungsphänomenen und mit statistisch signifikant schlechterer Gesundheit. Seelsorge hat hier eine »Option für die Armen«. Sie muss daran arbeiten, Menschen in Armut zu erreichen, zu begleiten und zu stärken, und sich nicht einseitig auf andere gesellschaftliche Milieus zu konzentrieren.
Beschleunigung
Rationalisierungsprozesse erzeugen permanenten Veränderungs- und Beschleunigungsdruck. Die Beschleunigungsfalle hat zwei Pole, die das Individuum zu überfordern drohen: die total verplante Zeit und die restlos flexibilisierte Zeit, weil alles zu jeder Zeit überall machbar erscheint. Seelsorge bekommt es mit Menschen zu tun, die wenig Zeit haben für Muße, Pause, religiöse Betätigung oder für ein zweckfreies Gespräch. Aber auch die Kehrseite dieser Entwicklung will beachtet sein: Menschen, die aus dem Produktionsprozess herausgefallen sind und zu viel Zeit haben. Fragen nach dem Umgang mit der eigenen Lebenszeit können zu Sinnfragen und damit zu Themen seelsorglicher Gespräche werden.
Bildung und lebenslanges Lernen
Der Wandel von der Industriege