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Den nächsten Morgen begann sie mit Croissant,café au lait und der aktuellen Ausgabe desVar-Matin. Auf der Titelseite der lokalen Tageszeitung gab es einen enthusiastischen Bericht über ein Jazz-Konzert im Belle-Époque-Casino von Beaulieu-sur-Mer. Darunter stand ein Kommentar zur Entwicklung der Fremdenverkehrszahlen an der Côte d’Azur. Und schon auf Seite zwei gleich mehrere Fotos von Bastians Beerdigung in La Seyne. Als ob es kein wichtigeres Thema gäbe als die Trauerfeier für einen cholerischen Polizeichef. Isabelle tunkte ein Croissant in den Milchkaffee – und entschuldigte sich für diesen Gedanken. Natürlich war das für die Region von Interesse. Nicht zuletzt boten die vielen Polizeiautos vor dem malerisch gelegenen Friedhof ein eindrucksvolles Bild. Doch, das ging in Ordnung. Aber nun war es auch gut.
Eine Stunde später öffnete sie die Tür zu ihrem Kommissariat im Rathaus von Fragolin. Apollinaire war schon da. Er befand sich in einer lebensbedrohlichen Situation. Auf einem Drehstuhl stehend, mit einem Fuß auf der Lehne, versuchte er ein Bild mit dem Konterfei von Charles de Gaulle aufzuhängen. Das Ganze machte einen ausgesprochen instabilen Eindruck. Es war den hohen Räumen im altenhôtel de ville geschuldet, dass ihr Assistent überhaupt eine Aufstiegshilfe benötigte, denn er war ebenso klapperdürr wie himmellang.
»Der General hatte Staub angesetzt«, gab Apollinaire eine kurzatmige Erklärung. »Jetzt glänzt er wieder, aber er will nicht mehr an seinen angestammten Platz zurück.«
Isabelle eilte zum Drehstuhl, der schon bedrohlich hin und her schlingerte, und hielt ihn fest.
»Merci, Madame. Jetzt schaff ich es.«
Es war Apollinaires Idee gewesen, in ihrem Büro den ersten Staatspräsidenten der Fünften Republik aufzuhängen. Der sei wesentlich respekteinflößender als der aktuelle Präsident – und habe eine längere Halbwertszeit.
Isabelle hatte Apollinaires Socken in Augenhöhe und stellte beruhigt fest, dass ihr Assistent nur bei der Trauerfeier eine Ausnahme gemacht hatte. Heute trug er wieder verschiedenfarbige Modelle, links rot-weiß gestreift und rechts marineblau. Für seine Verhältnisse fast schon konservativ.
»Attention, ich komme.«
Er stützte sich auf ihre Schulter und wagte den Absprung.
»Sie hätten sich den Hals brechen können. Gibt es im Haus keine Leiter?«
»Es ging auch so, dank Ihrer Hilfe. Ich bin ein großer Freund der konstruktiven Zweckentfremdung.« Er betrachtete den General, nahm Haltung an und salutierte. »Übrigens hat er eine Form der Gelbsucht«, stellte er mit Bedauern fest.
Isabelle runzelte die Stirn. »De Gaulle? Er ist 1970 gestorben, soviel ich weiß, an den Folgen eines Aorta-Risses.«
»Bien sûr, genauer gesagt am 9. November in Colombey-les-Deux-Églises, wo er auch begraben ist.«
»Aber Sie erwähnten doch gerade seine Gelbsucht?«
Apollinaire schüttelte den Kopf und deutete über die Schulter. »Ich sprach natürlich nicht von ihm, sondern von unserem Kaktus.«
»Aber warum schauen Sie dann das Bild vom General an, wenn Sie vom Kaktus auf dem Fensterbrett sprechen?«
»Madame, verzeihen Sie, ich gebe zu, das war verwirrend. Meine Gedanken sind meinem Blick vorausgeeilt.«
»Und warum Gelbsucht? Unser Kaktus ist doch kein Mensch. Außerdem macht er einen gesunden Eindruck.«
»O ja, dafür, dass er von seinen früheren Besitzern sträflich missachtet wurde, hat er sich glänzend gehalten. Jede andere Pflanze wäre jämmerlich eingegangen. UnserPilosocereus chrysostele hat einen bemerkenswerten Überlebenswillen.«
Isabelle ging zum Fenster und nahm den Kaktus genauer in Augenschein.
»Meinen Sie die gelben Stellen?«
»Ganz genau. Erst dachte ich an eine Wurzelfäule und hatte den SchadpilzPhytophthora in Verdacht.«
Isabelle, die es gewohnt war, dass Apollinaire auf den unglaublichsten Gebieten Bescheid wusste, je abwegiger, desto genauer, war jetzt doch verblüfft.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so gut mit Kakteen auskennen?«
»Nicht wirklich, Madame, aber es gebietet der Respekt gegenüber unserem einzigen Bürogenossen, sich mit ihm eingehend zu beschäftigen. Und jetzt weiß ich, dass er wohl nur unter Eisenmangel leidet und unter einem zu hohen pH-Wert. Ich denke, wir sollten ihn umtopfen.«
Isabelle lachte. »Dann tun Sie das. Ich bewillige hiermit den Kauf eines neuen Topfes.«
»Und Blumenerde.«
»Selbstverständlich, die Investition kann ich verantworten.«
»Merci. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Rückfahrt.«
»Gestern? Aber ja, kein Problem. Und Sie?«
»Ich habe noch mit einigen ehemaligen Kollegen ein Glas getrunken und über frühere Zeiten geredet. Aber dann hatte ich auch genug.Qu’il repose en paix!«
»Möge er in Frieden ruhen! So soll es sein.«
Sie deutete auf eine abgegriffene Akte, die auf ihrem Schreibtisch lag. »Wir sollten uns zur Abwechslung mal wieder einen Fall vornehmen.«
»Einen aus der Kiste mit den verstaubten, unaufgeklärten Fällen? Eine wunderbare Idee. Haben Sie einen Vorschlag?«
»Ich habe noch mal über den Überfall auf das Juweliergeschäft in Cannes nachgedacht, bei dem nicht nur die Frau des Inhabers erschossen wurde, sondern auch eine prominente Kundin aus dem Filmgeschäft.«
»Ich erinnere mich. Auch daran, dass Sie gesagt haben, dass alles für einen b