: Joachim Ringelnatz
: Jürgen Schulze
: Joachim Ringelnatz Gesammelte Werke
: Null Papier Verlag
: 9783954186495
: Gesammelte Werke bei Null Papier
: 3
: CHF 1.80
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: Comic, Cartoon, Humor, Satire
: German
: 2437
: kein Kopierschutz/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF/ePUB
Mit alphabetischem Index und 30 Illustrationen aus der Hand des Autors 580 Werke auf 2717 Seiten Seine skurrilen, spielerisch verschwurbelten Verse, die nicht selten vor Zynismus triefen, und doch eine sensible Seele offenbaren, machten Ringelnatz zu einem der schöpferischsten Multitalente Deutschlands zwischen den Weltkriegen. Zeitlebens meist pleite, konnte er sich nur schlecht mit einer Bürgerlichkeit arrangieren. Ringelnatz blieb nur wenig Zeit, seinen aufkeimenden Ruhm zu genießen, die Nazis erteilten Veröffentlichungs- und Auftrittsverbot. Armut, Alkoholismus und die Tuberkulose trieben ihn ins Grab. Heute bleibt uns ein großes Werk aus Gedichten, Abzählreimen, Geschichten, Tagebüchern, Dramen und skurrilen Figuren, wie der Seemann Kuttel Daddeldu. Wenn man Ringelnatz ständige Existenznöte betrachtet, überrascht dieser Fleiß umso mehr. Sein Verdienst war das Spiel mit dem Wortwitz. Seine Gedichte zählen heute zu den populärsten Texten deutscher Literatur. Seine wichtigsten Werke sind hier veröffentlicht: Die Schnupftabaksdose, Turngedichte, Kuttel Daddeldu oder das schlüpfrige Leid, ...liner Roma..., Kinder-Verwirr-Buch und mehr als 500 weitere Null Papier Verlag

Joachim Ringelnatz (Geb. 7. August 1883 in Wurzen; Gest. 17. November 1934 in Berlin; eigentlich Hans Gustav Bötticher) war ein deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler, der vor allem für humoristische Gedichte um die Kunstfigur Kuttel Daddeldu bekannt ist.

Vom Tabarz


Auf der Wiese zu Jekaterinburg geboren und wißbegierig war die kleine Fliege, aber unverschämt. Es war unvermeidlich wie ungewollt, daß sie durch ihre Neugierde mancherlei lernte. Damit prahlte sie dann, überhob sich ihren Gleichaltrigen und war undankbar gegen abgegraste Lehrer. So besuchte sie oft ihre gebrechliche Großmutter, um sich alte Fliegensagen erzählen zu lassen: Von der Schlange Leim, die sich aus Kronleuchtern herunterläßt und Zucker ausschwitzt, um ihre Opfer anzulocken. Oder vom Ungeheuer Klatsche, das auf Menschen wohnt. Und mehr. Aber waren derartige Erzählungen zu Ende, dann warf die schnöde Fliege die Eier durcheinander, die Großmutter während des Sprechens gelegt hatte, und flog nach solchem oder ähnlichem Unfug ohne Abschied davon, um den Freunden und Bekannten Selbsterlebtes betreffs der Schlange Leim vorzulügen.

Die Mitfliegen staunten über Wuppys Kühnheit. Wuppy setzte sich in ihrer Gegenwart auf die Schiene, als das D-Zug heranbrauste, und schwur hoch und teuer, sie würde nicht weichen, sondern das D-Zug anhalten. Die Lokomotive tutete.

»Es hat Angst! Es schreit!« triumphierte Wuppy. Der Zug bremste, hielt. »Na, seht ihr’s?« Viele Menschen entströmten dem Zuge.

»Es gebiert lebendige Junge«, erklärte Wuppy wichtig und flog neugierig hin, um die Neugeborenen zu berüsseln.

Geriet in den Leib des D-Zuges und nahm dort auf einem Wurstbrot Platz, das auf dem Schoße eines D-Zug-Embryos balancierte.

Die transsibirische Eisenbahn fuhr weiter; über Tscheljabinsk und Irkutsk. Neben dem Wurstbrot lag eine verkorkte, mit Kaffee gefüllte Flasche. An einem rindenartigen Teil derselben klebten zwei süße Tropfen; aber die Fliege wurde gestört durch trampelnde Finger des Kornhändlers Pagel. Der versuchte, ohne Propfenzieher zu öffnen. Weil das mißlang, stieß er den Korken mittels eines Bleistiftes hinein, danach tat er einen Schluck. Die Fliege war, als sie die Rinde mit den süßen Tropfen entschwinden sah, sofort hinterdrein geschossen. Plötzlich ward sie von einem Strudel gepackt, verlor die Besinnung, und als sie wieder zu sich kam, schwamm sie. Wie damals im Tümpel hinter der Dotterblume. Sie wußte instinktiv und durch Großmutter etwas von der Gefahr des Ertrinkens. War daher überglücklich, ein Rindenland zu erblicken, erreichte, bestieg es und stürzte sich auf zwei süße Tropfen. Dabei beschäftigten sich ihre Hinterbeine mit Abtrocknen.

Herr Pagel hatte die Flasche mit Papier zugestopft und ins Gepäcknetz gelegt, nun las er, dann streckte er sich zum Schlafen.

Nach fünf Reisetagen stieg in Strjetensk ein kleines Kosakenmädchen ins Coupé. Der Kornhändler wollte ein Gespräch anknüpfen, aber sechs Tage später, in Chabarowsk, stieg das Mädchen schon wieder aus.

Fürchterliches hatte die Fliege in diesen Fliegenjahren erlebt: Erdbeben, Springtiden, Seestürme und gräßliche Wasserhosen. Wuppy machte eine naturwissenschaftliche Beobachtung: Nach jeder Wasserhose war das gelbe Tümpel um sie herum seichter.

Schon längst und wiederholt hatte die entsetzte Fliege versucht, das Rindeneiland zu verlassen. Sie hatte sich dabei sogar vorgenommen, ein neues, bescheideneres Leben anzufangen. Aber überall, in gewissen, unterschiedlichen Distanzen, fand sie eine gefrorene Luftschicht, die sich zwar durchsehen, aber nicht durchfliegen ließ. Wuppy vermeinte anfangs, sich verirrt zu haben, doch stellte sie fest, daß ihre Umgebung dieselbe war und blieb.

Fünfzehn Werst vor Wladiwostok hielt der Zug auf offener Strecke infolge Achsenbruches. Der Kornhändler öffnete das Fenster, um nach der Ursache zu fragen. Dann öffnete er die Flasche, um zu trinken; mußte aber vorm Trinken erst niesen. An diesem

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