Weil unsere Großväter den Hut zogen
Mein Großvater war ein schmaler, klein gewachsener Mann, der sein Geld als Straßenbahnschaffner verdiente, wie es sie noch bis in die Sechzigerjahre hinein überall im öffentlichen Nahverkehr gab. Er hatte die angenehme Eigenschaft, nie im Mittelpunkt stehen zu wollen, konnte aber trotzdem eine große Gesellschaft unterhalten, wenn er guter Laune war. Natürlich musste er als städtischer Beamter im Dienst stets eine Uniform tragen. Privat aber bevorzugte er für gewöhnlich eine akkurat gebügelte Gabardinehose samt messerscharfer Bundfalte, ein frisch gestärktes, schneeweißes Hemd und – wenn er sonntags in die Kirche ging – ein graues Jackett, an dessen Revers deutlich sichtbar die Kette einer Taschenuhr befestigt war. Dazu trug er, wann immer er aus dem Haus ging, einen Hut.
Egal, ob es Sommer oder Winter war, die Sonne schien oder Regen fiel – wenn Großvater nicht gerade in seinem kleinen Schrebergarten nach den Tomaten sah oder im Hof das Laub zusammenkehrte, war ein dunkler Filzhut mit hochgebogener, eingefasster Krempe sein ständiger Begleiter. Es mochte sein, dass der eigentliche Sinn des Huttragens darin bestand, den Kopf vor Kälte, Nässe oder Sonnenstrahlen zu schützen. Mein Opa trug seinen Hut vorwiegend deshalb, um ihn in einer formvollendeten runden Bewegung seines gesamten linken Armes ziehen zu können, wann immer er jemanden sah, den er kannte oder auch nur glaubte zu kennen.
Über die Kulturgeschichte dieses Kleidungsstücks gibt es zahlreiche ernsthafte und hochwissenschaftliche Arbeiten. Sicher ist, dass der Hut schon bei den Römern eine symbolische Rolle spielte, die über seine Funktion als Kopfbedeckung hinausging. So war er ein Zeichen für die individuelle Freiheit, weshalb ihn sogar Sklaven für den seltenen Fall überreicht bekamen, dass sie aus der Gefangenschaft entlassen wurden. Das Abnehmen des Huts als stille Grußbotschaft tauchte dagegen erstmals im 13. Jahrhundert auf. Anfangs war es eine reine Statusfrage, wer vor wem den Hut zog. Doch im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich daraus jene Attitüde, die auch mein Großvater bis ins hohe Alter hinein schätzte und pflegte. Es war eine kleine Geste, die Höflichkeit ausdrücken sollte, vor allem aber:
Respekt!
Großvater wuchs in einer Zeit auf, in der man seine Eltern siezen musste. Das mutet an, als sei er irgendwann im Spätbarock geboren worden. Tatsächlich aber war er Jahrgang 1905, und das war immerhin das Jahr, in dem Robert Koch den Medizin-Nobelpreis für seine Tuberkuloseforschung erhielt, und nur wenig später, nachdem in Berlin die erste U-Bahn-Linie in Betrieb genommen wurde, was schon deutlich mehr nach moderner Zeit klang. Jedenfalls sprach er zu Hause mit seinem Herrn Vater und seiner Frau Mutter, was sich heute mehr als skurril anhören würde – außer vielleicht für autoritär übermotivierte Menschen wie Louis van Gaal, der während seiner Tätigkeit als Trainer des FC Bayern München in einem Interview erklärte, dass er sich das joviale »Du« auch heute noch von seinen inzwischen erwachsenen Töchtern verbitte.
Damals aber, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war diese Art des Umgangs weniger ein Zeichen für ein herrschsüchtiges und totalitäres Elternhaus. Stattdessen stand das Siezen auch im privaten Bereich schlichtweg dafür, dass man vor der entsprechenden Person eine gehörige Portion Achtung haben sollte. Immerhin war der Vater gemeinhin derjenige, de