Rywka Lipszyc beginnt den einzigen erhaltenen Band ihres Getto-Tagebuchs kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag. Im Laufe des halben Jahres zwischen Oktober 1943 und April 1944 füllt sie über 100 handgeschriebene Seiten. Dann bricht das Tagebuch ab. Ein Jahr später findet eine sowjetische Ärztin, die die Rote Armee bei der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz begleitete, das Tagebuch unweit der Ruinen des Krematoriums in Birkenau. Deutet die Reise des Tagebuchs an, welchen Weg Rywka in den so gut wie sicheren Tod ging, so erzählen die Eintragungen eine weitaus tiefgründigere Geschichte. Rywka ringt darum, sich selbst zu verstehen und sich zu artikulieren. Dabei dokumentiert sie sowohl die physischen Zumutungen des Lebens im Getto als auch die emotionalen Turbulenzen des Heranwachsens in der Schoah.
Rywka Lipszyc wurde am 15. September 1929 als älteste Tochter von Yankel und Miriam Sarah Lipszyc geboren. Sie hatte drei Geschwister: Abram, genannt Abramek (geb. 1932), Cypora, genannt Cipka (geb. 1933), und Estera, genannt Tamarcia (geb. 1937). Rywkas Eltern stammten beide aus dem polnischen Lodz. Yankel Lipszyc – das fünfte von acht Kindern der Eltern Avraham Dov und Esther – lebte mit seiner Familie in der Nähe seiner Geschwister und anderer Verwandter in Lodz. Über die Ehefrau seines älteren Bruders Yochanan, Hadassah, war die Familie weitläufig mit Moshe Menachem Segal verwandt, dem berühmten »letzten Rabbi« des Lodzer Gettos. Nach der Einnahme der Stadt durch die deutschen Truppen wurde Segal verfolgt und gefoltert und 1942 unweit der Stadt Kielce ermordet.[1]
Die jüdisch-orthodoxe Familie lebte streng nach den religiösen Vorschriften. Das Tagebuch zeigt Rywkas starke Bindung an die Rituale des Sabbats und der jüdischen Feiertage sowie ihr unerschütterliches Vertrauen in Gott. Am 2. Februar 1944 schreibt sie:
Wie sehr ich Gott liebe! Ich kann mich immer und überall auf Gott verlassen, aber ich muss auch meinen Teil dazu beitragen, denn nichts geschieht von allein! … Aber ich weiß, Gott wird mir helfen! Ach, wie gut, dass ich Jüdin bin, und wie gut, dass man mich gelehrt hat, Gott zu lieben … Für das alles bin ich dankbar! Ich danke dir, Gott.
Zu dem Zeitpunkt, an dem das Tagebuch einsetzt, lebt Rywka schon über drei Jahre im Getto und hat beide Eltern verloren. Ihr Vater wurde auf der Straße von Deutschen brutal zusammengeschlagen und trug bleibende Gesundheitsschäden davon. Infolge einer Lungenerkrankung starb er am 2. Juni 1941. Ihre Erinnerungen an den Vater beschreibt Rywka eindrücklich am Ende des Tagebuches.
Die Mutter kümmerte sich im Getto ein Jahr allein um ihre vier Kinder. Sie starb am 8. Juli 1942, vermutlich wie Zehntausende andere Gettobewohner an Unterernährung und Erschöpfung. Rywkas Vater wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Marysin am nordöstlichen Rand des Gettos begraben; wo die Mutter ihre letzte Ruhe fand, ist nicht bekannt. Dennoch empfindet Rywka von Zeit zu Zeit das dringende Bedürfnis, die Gräber ihrer Eltern zu besuchen. »Abgesehen davon zieht es mich seit ein paar Tagen auf den Friedhof …«, schreibt sie am 4. Februar 1944, »eine offenbar unbewusste Kraft … Ich würde so gern dorthin gehen! … Zu Mama, zu Papa. Es zieht mich mit aller Macht dorthin!«
Die verwaisten Lipszyc-Kinder wurden von Verwandten adoptiert. Ein Onkel nahm Abramek und Tamarcia zu sich, während Rywka und Cipka zu Yochanan und Hadassah Lipszyc kamen. Knapp zwei Monate später erleben Rywka und ihre Geschwister eines der traumatischsten Ereignisse in der Geschichte des Gettos, die berüchtigte »Aktion Gehsperre« (im Getto-Slang kurz »Sperre«) im September 1942. Auf Anordnung der deutschen Behörden sollte das Getto neben Kranken und Schwachen auch insgesamt 15 000 Kinder unter 10 Jahren und Alte über 65 Jahren zur Deportation ausliefern.
Mordechai Chaim Rumkowski, der sogenannte Älteste der Juden, überbrachte der Gettobevölkerung diesen entsetzlichen Befehl. In einer Rede verlangte er von den Vätern und Müttern, sie sollten das Undenkbare tun, um noch Schlimmeres vom Getto abzuwenden. Er beschwor die versammelte Menge von Tausenden weinenden und klagenden Eltern:
Niemals habe ich mir