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Es hieß, die Schreie der Irren seien bei Windstille übers Meer zu hören.
Besonders im Herbst. Die Schreie gehörten zum Herbst.
Im Herbst beginnt auch diese Geschichte. Mit feuchtem Nebel, ein paar zögernden Wärmegraden und einer Frau, die plötzlich erkennt, daß sie der Freiheit nahe ist. Sie hat ein Loch in einem Zaun entdeckt.
Es ist Herbst 1937. Die Frau, Kristina Tacker, war viele Jahre in der großen Nervenklinik außerhalb von Säter eingesperrt. Gedanken an Zeit hatten für sie jeden Sinn verloren.
Lange betrachtet sie das Loch, als würde sie seine Bedeutung zunächst nicht verstehen. Der Zaun war stets wie eine Hülle, der sie nicht zu nahe kommen sollte. Er ist eine Grenze mit einer ganz bestimmten Bedeutung. Aber diese plötzliche Abweichung? Dieser Punkt, an dem der Zaun aufgebrochen ist? Zu dem, was eben noch verbotenes Terrain war, ist von unbekannter Hand ein Tor geöffnet worden. Es dauert lange, bis sie es begreift. Dann kriecht sie vorsichtig durch das Loch und befindet sich außerhalb des Zauns. Sie steht regungslos und horcht, den Kopf zwischen die angespannten Schultern gezogen, gewärtig, daß jemand kommt und sie packt.
Während der zweiundzwanzig Jahre, die sie in der Nervenheilanstalt eingesperrt war, hatte sie nie das Gefühl, von Menschen umgeben zu sein, sondern von Atemzügen. Die Atemzüge waren ihre unsichtbaren Wärter.
Hinter ihr liegen die schweren Körper der Häuser wie schlummernde Raubtiere, zum Sprung bereit. Sie wartet. Die Zeit gibt es nicht mehr. Niemand kommt und zwingt sie zur Rückkehr.
Erst nach langem Zögern tut sie einen Schritt nach vorn, dann noch einen, und verschwindet zwischen den Bäumen.
Sie befindet sich in einem Nadelwald. Es riecht scharf, wie von brünstigen Pferden. Sie meint einen Pfad am Boden zu ahnen. Sie bewegt sich langsam, und erst als sie den schweren Atem der Nervenheilanstalt nicht mehr spürt, wagt sie es, sich umzudrehen.
Um sie herum gibt es nur Bäume. Daß der Pfad eine Einbildung war und jetzt verschwunden ist, kümmert sie nicht, da sie ohnehin kein Ziel hat. Sie ist wie ein Baugerüst um einen leeren Raum herum. Es gibt sie nicht. Innerhalb dieses Baugerüsts ist weder ein Haus noch ein Mensch entstanden.
Da draußen im Wald bewegt sie sich sehr schnell, als hätte sie trotz allem ein Ziel zwischen den Bäumen. Aber oft steht sie auch ganz still, als wäre sie im Begriff, sich selbst in einen Baum zu verwandeln.
Im Nadelwald existiert keine Zeit. Nur Holzstämme, vor allem Kiefern, hin und wieder Tannen. Und Sonnenstrahlen, die lautlos auf die feuchte Erde treffen.
Sie beginnt zu zittern. Ein Schmerz kommt unter der Haut angekrochen. Erst glaubt sie, es sei dieser entsetzliche Juckreiz, der sie mitunter überfällt, so daß den Pflegern nichts anderes übrigbleibt, als sie anzuschnallen, damit sie nicht ihre Haut zerkratzt. Dann erkennt sie, daß es etwas anderes