Salomon
Salomon war hochbegabt. Schon als Dreijähriger hatte ihm sein Vater, ein Musiklehrer, eine Kindergeige geschenkt und Salomon hatte das Musikinstrument vom ersten Tag an zu seinem besten Freund gemacht. Alle Stofftiere traten in den Hintergrund. Sie durften zwar nach wie vor sein Kinderbett teilen, aber sie wurden an den Rand gedrängt und dienten ab diesem Zeitpunkt nur noch als Kulisse und stumme Zuhörer für seine „Konzerte“. Es dauerte gar nicht lang bis es ihm gelang, der Geige den ersten Ton zu entlocken, zuerst zupfend, später sogar mit dem Bogen. Auch wenn es sich um ein Plastikspielzeugmade in Taiwanhandelte, so strahlte es Magie aus und wurde zu seinem wahren und besten Freund.
Vor seinen Geschwistern versteckte er die Geige und behütete sie mit aller Konsequenz und Aufmerksamkeit. Seine Eltern, vor allem sein Vater, waren stolz darauf, wie Salomon sich für Musik interessierte, und hofften damals schon insgeheim, ihr jüngster Sohn würde es dem Vater gleichtun und den Weg der Musik gehen. Seine älteren Geschwister, zwei Mädchen und ein Junge, waren ebenfalls begabte und interessierte Schüler, aber Salomon, der Jüngste im Quartett, war der kleine Musikus der Familie. Kaum konnte der Säugling sitzen, da bewegte er sich schon im Rhythmus der Musik. Egal ob Klassik, Jazz oder Pop – er schunkelte, klatschte in die Hände und war ein zufriedenes Kind, sobald Musik an seine Ohren drang. Kaum konnte er krabbeln, war die Küche, wo das Radio den ganzen Tag lief, sein Lieblingsort. Er genoss die Anwesenheit seiner Mutter, räumte mit Begeisterung die Laden aus und entdeckte Töpfe, Pfannen und Plastikgeschirr als wunderbare Musikinstrumente. Das Radio lief den ganzen Tag und solange es Musik zu hören gab, war er glücklich.
Nachrichtensendungen hasste er wie die Pest. Sobald die Signation dazu ertönte, setzte Salomon zu einem gellenden Schrei an und ließ erst wieder davon ab, nachdem Wetter und Verkehrsfunk geendet hatten. Seine Mutter verließ meist für einige Minuten den Raum und hörte die Nachrichten im Wohnzimmer, während Salomon im Stil einer Sirene das Weltgeschehen kommentierte. Seine Geschwister hatten wenig Verständnis für seine Schreiattacken und verbündeten sich gegen ihn. Er wurde gefesselt, getreten, sein Mund mit Klebeband verschlossen und er wurde mit schöner Regelmäßigkeit in den Abstellraum verfrachtet und dort für exakt fünf Minuten eingesperrt. Aber auch das half nichts. Salomon schrie gellend, sobald die Musik durch die Nachrichten ersetzt wurde. Da der Abstellraum belüftet war und die Lüftungsrohre die verschiedenen Stockwerke des Gebäudes verbanden, blieb auch den Nachbarn das gellende Geschrei des kleinen Salomon nicht verborgen. Die meisten von ihnen waren ohnedies berufstätig, an den Wochenenden herrschte auch in den Nachbarwohnungen hektische Betriebsamkeit und so nahm man im Lauf der Zeit kaum noch Notiz davon. Den Spitznamen „Sirene“ bekam er von seinem älteren Bruder und dieser Name sollte ihm sein ganzes Leben lang erhalten bleiben.
Kaum war wieder Musik zu hören, endete das Geschrei und die Küche war auch für den Rest der Familie wieder ein Platz zum Wohlfühlen. Salomons Geschrei im Stundentakt kannte jeder, der auch in diesem Haus wohnte. Und es war ein großes Haus, mitten in Tel Aviv. 40 Parteien lebten auf zehn Etagen und Salomon lebte mit seinen drei Geschwistern und seinen Eltern im neunten Stock, mit herrlichem Blick aufs Mittelmeer. Die Wohnungen waren zum größten Teil vermietet, nur Salomons Eltern hatten sich vor einigen Jahren die Wohnung gekauft, nachdem seine Mutter eine kleine Erbschaft erhalten hatte.
Tante Magdalena hatte keine Nachkommen