2. Begegnungen
St. Gabriel’s Cricklewood (London): Chris Hill
Mein Sohn guckt skeptisch. Kritisch beäugt er das große graue Tier, das ich ihm präsentiere, und als ich ihn hintragen will, dreht er sich ängstlich weg. Dabei ist der Esel sehr zutraulich. Ein halbes Dutzend Kinder drängt sich an der Umzäunung seines Gatters und versucht ihn zu streicheln. Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, guckt sich nur manchmal um, als wolle er sichergehen, dass er vorne auf der Bühne seinen Auftritt nicht verpasst. Er ist nämlich die Hauptattraktion heute, und wie ein alter Rock’n’Roller sich nicht groß um eine Gruppe schreiender Groupies schert, so nimmt der alte Esel die Zuneigungsbekundungen seiner Fans hier in der St. Gabriel’s Kirche mit der nötigen Mischung aus offener Zugewandtheit und routinierter Verachtung entgegen. Seit Wochen wird mit seiner Anwesenheit an diesem Tag geworben, und tatsächlich ist das Krippenspiel mit dem echten Esel stadtteilweit bekannt.
Das Einzugsgebiet der Gemeinde im Nordwesten Londons ist zweigeteilt. Auf der einen Seite liegt Cricklewood, ein Stadtteil, der geprägt ist von den typischen englischen Reihenhäusern im viktorianischen Backsteinstil, aber auch von dem Gemisch aus arabischen, polnischen, rumänischen, afrikanischen und sonst wie internationalen Läden, die sich abwechseln mit mindestens drei Handvoll Reinigungen, einem recht verkitschten Laden für christliche Geschenke und neuerdings auch einem Tät