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Manchmal endet eine Spanne Zeit mit einem Geräusch wie dem leisen Platzen einer Seifenblase oder, etwas lauter, dem Schnalzen der flachen Zunge am Gaumen. Und manchmal sind in dieser Zeit Dinge geschehen, die lange erinnert werden, die Eindrücke, manchmal tiefe Narben hinterlassen. Zwanzig Jahre waren vergangen, und Annarosa hatte nichts vergessen.
Auch ich war erwachsen geworden, hatte mein Studium abgeschlossen und arbeitete in der psychiatrischen Klinik der Universität. Ich war jedoch oft in der Stadt, in der Annarosa noch studierte, nie ganz zufällig. Auch wenn ich immer so tat, als ob. Ihr Studium würde noch dauern, sie war vier Jahre jünger als ich, und sie wollte den Dingen auf den Grund gehen.
Sie muss zu der Zeit schon diese ganzen Bücher gelesen haben, die dann viel, viel später zu mir, auf mich (wenn man die Belastung in Betracht zieht) gekommen sind. Dicke Wälzer über Zivilisationsgeschichte, Kulturgeschichte, Wirtschaftskritik,Das Prinzip Verantwortung und im Gefolge diese utopischen Weltrettungsmodelle.
Was studiert man, wenn man die Welt retten will? Annarosa hatte sich nach einigen Umwegen, die sie selbst sicher nicht so bezeichnet hätte, für Ethnologie entschieden, im Hauptfach. Sie würde die Menschen, nein, die Menschheit kennenlernen, meinte sie, wenn sie möglichst viele Völker verstand und erforschte. Ihr Professor war Universalienforscher und sah genau darin ein friedenstiftendes Potenzial. Annarosa war natürlich sofort überzeugt. Als Nebenfach (Luxus, wie sie sagte) hatte sie Archäologie gewählt. Auch da suchte sie nach Universalien, wollte etwas finden, das allen gemeinsam war. Nicht nur, was die Menschen der Gegenwart an verschiedenen Orten machten und wie sie es machten, wollte sie wissen, sondern dazu, im Vergleich, wie die Menschen früher gelebt hatten. Vielleicht, sagte sie, gebe es doch eine Verbindung zwischen uns allen, und wir hätten mehr Gemeinsames als Trennendes. Ich nickte nur.
Warum ich Psychologin geworden war, verstand jeder, der unsere Familie kannte. »Problematisch« ist wohlwollend formuliert. Schon vonseiten der mütterlichen Familie, den Nielsens, hatten wir ein gewaltiges Maß, mindestens eine Tonne, an Belastung und krankhaften Störungen vererbt bekommen. Ich konnte also gar nicht anders, als nach Erklärung und Heilung zu suchen. Das entwickelt sich manchmal wie bei einer Gewitterfront, die Probleme kumulieren wie Wolken, türmen sich auf, bis es kracht. Ich hätte der erlösende Platzregen sein sollen, der alles reinigt. Aber es fehlte der Temperaturunterschied. Wir waren uns zu ähnlich, und so war ich selbst oft nur Blitz und Donner, war Begleitmusik ohne Erlösung.
Ich heiße Melissa. Mit dem Namen hatte ich noch Glück, verglichen mit Annarosa. Auch wenn er nur durch das Unglück einer anderen auf mich kam. Die ältere Schwester der Mutter, nein, sie war nicht meine Tante, sie hatte nicht so lange warten können, hatte sich Jahre vor meiner Geburt das Leben genommen. Siebzehn war sie damals gewesen. Dass sie dadurch umgehend zur Familienheiligen werden würde, hatte sie sicher nicht geahnt oder gar beabsichtigt. Jeder fühlte sich ihr gegenüber schuldig. Ihre jugendlichen Depressionen, heute würde man sie wahrscheinlich alsBipolare Störungen diagnostizieren, nahm niemand ernst, und dann hat sie es allen gezeigt. Und ausgerechnet meine Mutter, die zu der Zeit ja noch niemandes Mutter war und einfach Linda hieß und die als Jüngste wirklich nichts hätte tun können, erkaufte sich später ihre Absolution, ihren Ablass, indem sie ihrer Erstgeborenen, also mir, den Namen dieser Schwester gab. Melissa, nicht übel – solange man die Geschichte dahinter nicht kennt. Nur unsere Mutter, nach Aussagen anderer selbst von Anfang an alles andere als stabil, war nach der ganzen Geschichte ängstlich und versteckte sich, als wir dann auf die Welt kamen, hinter einer Fassade aus Stärke und Strenge un