Das hier war heute mein letzter Schultag, das schwöre ich. Nie wieder betrete ich dieses Gebäude. Ich weiß, was sie von mir wollen, wenn ich in die Gesichter meiner Mitmenschen schaue. Sie wollen, dass ich wieder normal ticke. Man übersteht das, das Leben geht weiter.Alles wird gut, irgendwann wirst du drüber lachen, laber Rhabarber. Nie wird einer mal drüber lachen. Keiner. Erst recht nicht ich. Sie sollen mir eine Person zeigen, die darüber lacht, wenn die beste Freundin verschwunden ist. Jessica hieß meine beste Freundin, ihr Name war Programm. Denn wenn ein Mädchen Jessica heißt, dann darf es kein Weichei sein. Sie war ganz anders als all diese überfressenen gelang-weilten Gesichter, die jetzt in der Klasse übrig geblieben sind. Sie hatte mich mit ihrer unbekümmerten Lebensart immer mitgerissen. Ihr war es egal, was die Leute dachten. Sie lief in Kleidern rum, von denen sie manche aus dem Altkleidercontainer gefischt hatte. Sie zog bunte Ringelstrümpfe zu einem schwarzen Cocktailkleid an. Sie sprang mitten im Unterricht auf und rief: »Ich hab euch alle lieb!« Wenn sie die erstaunten Blicke der Lehrer sah, erklärte sie, dass es im Unterricht endlich mal etwas menschlicher zugehen müsste. Oft saßen wir zusammen auf einer Bank in der Innenstadt und grüßten alle Leute, die vorbeikamen. Jessica führte Listen darüber, wie viele Leute zurückgrüßten. Sie wertete die Liste aus und hielt daraufhin ein Referat in der Schule über den baldigen Zusammenbruch unserer Gesellschaft. Unser Direktor bekam das Referat zu lesen und wollte Jessica zu einer Therapie schicken. Mit fünfzehn durfte man sich keine Gedanken über die Gesellschaft machen. Das durfte man nur in der Generation des Direktors, und die machte sich keine Gedanken.
Jessica machte aber noch viel mehr. Sie kommunizierte nicht im Internet, wie es alle taten, weil sie nicht zur Vereinsamung der Gesellschaft beitragen wollte. Sie kannte alle Außenseiter dieser Stadt. Obdachlose und sogar der letzte Schmuddelpunk begrüßten sie mit Namen. Sie ging regelmäßig, ohne Bezahlung, mit einer verwirrten alten Dame spazieren.
Da wir Freundinnen waren, lief ich bald auch in Sachen herum, die aus dem Rahmen fielen. Im Gegensatz zu meinen Klassenkameraden trug ich keine Markenklamotten, sondern konnte einfach in einer Jogginghose auftauchen. Mit Jessica war es mir egal, was die anderen von mir dachten. Mit ihr fühlte ich mich stark, denn wir wussten, dass es auf uns ankam, die Gesellschaft vor dem Wahnsinn zu retten, weil nur wir die Ungerechtigkeiten sahen und alles verstanden. Jetzt aber, wo nur noch ich da war, verstand ich nichts mehr und ich wollte nicht mehr die Welt retten. Ich sah nicht die Gesellschaft vor die Wand knallen, sondern mich. Ohne Jessica fühlte ich mich wie ein wirklicher Außenseiter, ich hatte irgendwie meine Daseinsberechtigung verloren. Sie hatte meiner Außenseiterrolle Sinn gegeben. Sie wusste, was zu tun war, und riss mich mit. Mit Jessica auf dem Pausenhof zu stehen und Leute anzupöbeln, die schwachsinnige Parolen von sich gaben, das war tough. Alleine hielt ich die Klappe. Ich regte mich nicht mehr über die Dummheit meiner Mitmenschen auf, die nicht begriffen, was los war, und sich einnebeln ließen. Ich wäre froh gewesen, etwas zu haben, was mich einnebelte.
Jessica war wunderschön und hochintelligent, sie hätte die tollsten Jungen haben können, aber sie hatte einen ganz speziellen Geschmack. Auf einer Party, bei der fünfundzwanzig Jungen waren, nahm sie sich garantiert den Jungen mit dem größten Dachschaden und knutschte mit ihm rum. Aus i