Kapitel 1
Alles ist ganz toll, oder?
Willkommen, lieber Leser. Sie haben sich eine wirklich großartige Epoche der Menschheitsgeschichte ausgesucht, um zu uns zu stoßen. Sehr raffiniert von Ihnen, wenn ich das so sagen darf. Sie haben sich Dinge wieMammuts, dasTragen von Tuniken, diePest, Trepanation, mehrere Weltkriege undAußenklos erspart und sind am Ende einer seit 50 Jahren anhaltenden, außerordentlich friedlichen Periode des technologischen und gesellschaftlichen Fortschritts auf der Bildfläche erschienen.
Ja, wir leben tatsächlich in einer wunderbaren Zeit. Fleißige Menschen haben unermüdlich daran gearbeitet, unsere Wissenschaft voranzutreiben, unsere Straßen zu pflastern, unsere Häuser zu isolieren, unsere Jacken wasserabweisend zu machen, unsere Jobs gewerkschaftlich zu organisieren und unsere Polizei zu bewaffnen. Fast alle unsere Nachbarn sind zivilisierte Menschen. Mittlerweile sind so viele Grundbedürfnisse des Lebens befriedigt, dass wir sogar noch Zeit für ein paar «Nice-to-Haves» haben – weitgehend unnötige Luxusgüter, die zum Spaß da sind. Luxusgüter wie dieZitronenhaube (die Zitronenhälften frisch hält), denZweipersonen-Regenschirm (der breiter ist und einen Knick in der Mitte besitzt, damit ein Pärchen darunter Zuflucht suchen kann), dieE-Zigarette (wie eine herkömmliche Zigarette, nur ohne den unangenehmen Gestank und selbst im Flugzeug benutzbar) und, last but not least, denbeheizten Handtuchbügel (eine warme Metallstange, die Ihr Handtuch in Rekordzeit trocknen lässt).
Dank all dieser hart erkämpften Innovationen (und ganz besonders dank der Zitronenhaube) werden wir statistisch gesehen länger leben als alle unsere Vorgänger in der Geschichte der Menschheit – nämlich bis ins hohe Alter von 78 Jahren, wenn wir ein deutscher Mann, oder 83 Jahren, wenn wir eine deutsche Frau sind. Durch die staatlich finanzierten Bildungsangebote werden wir klüger sterben als jede Generation vor uns, wir werden erfahrener sein und mehr von unserem glücklichen kleinen Planeten bereist haben, als jeder unserer Vorfahren sich auch nur zu erträumen gewagt hätte. Die Technologie, die wir in unserem Alltag nutzen, hätte vor drei oder vier Generationen ausgereicht, unsere Vorväter davon zu überzeugen, dass wir so etwas wie Götter sind – jemand, der ein kleines Plastikrechteck in die Luft halten und direkt mit dem Himmel kommunizieren kann. Wir nennen esgoogeln und finden absolut nichts dabei. Unsere Vorfahren hätten uns dafür wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sie waren in dieser Hinsicht ziemlich empfindlich.
Im Interesse unserer Wanderlust und der interkulturellen Entwicklung haben wir Nationen wie Legosteine zu leicht handhabbaren Blöcken zusammengefügt und ein Gebilde geschaffen, das wirEuropa nennen. Mit unserem europäischen Pass steht uns ein nie dagewesenes Angebot von «26 Ländern zum Preis von einem» zur Verfügung. Und keine Angst: Wir können ohne Bedenken reisen, schließlich leben wir mitten in der sichersten Epoche der Menschheitsgeschichte. Die Todesursache Nummer eins in unserer Zeit? Das Alter. Es bekommt uns irgendwann alle in die Finger – obwohl auch an diesem Problem gearbeitet wird. Vielleicht gibt es eine Kur dagegen, bevor wir selbst alt geworden sind.
Nicht zuletzt sind wir mächtig stolz auf die jüngsten Fortschritte auf dem Gebiet der Telekommunikation. Unsere größte Erfolgsgeschichte bis dato ist dasInternet – eine Art magisches Rolodex des gesamten Menschheitswissens. Nicht, dass sich heutzutage noch viele daran erinnern könnten, was ein Rolodex ist. Wir könnten unsere Väter fragen, am besten per E-Mail. Die Ironie würde ihnen gefallen. Das Internet ist ein egalitäres Informationsorakel, das das geballte Wissen von sieben Milliarden Menschen handlich bündelt und es Leuten wie uns erlaubt, unsere brillanten Ideen einem globalen Publikum bekannt zu machen – ob es sich dabei nun um ein Foto unseres Mittagessens oder um eine grandiose These zur Verbesserung der menschlichen Existenz handelt. Das Internet nimmt alles auf und verteilt es gleichmäßig in Form eines globalen Gerangels um Aufmerksamkeit, das sichsoziale Medien nennt.Everybody #lovesit.
Wir können von überall auf dieses Wissen zugreifen, dank eines Geräts, das manSmartphone nennt. Ein Kommunikations-Ninja im Taschenformat, den wir jederzeit hervorziehen, gen Himmel richten und mit sachdienlichen Fragen löchern können – oder der uns einfach lustige Katzenvideos zeigt. Wonach immer uns der Sinn steht, welche Ablenkung unser Herz begehren mag, es gibt jemanden, der gerade eine 99-Cent-App dafür programmiert. Schon jetzt verbirgt sich in unserem Smartphone mehr Rechenleistung, als die NASA im Jahr 1969 brauchte, um einen Menschen auf den Mond und wieder zurück fliegen zu lassen. Hatte ich bereits erwähnt, dass wir sogar schon den Mond besucht haben? Ja, und wahrscheinlich werden wir bald dorthin fliegen, um Urlaub zu machen. Wir dürfen nur nicht vergessen, unsere Zitronenhauben einzupacken.