Kapitel 1
Paris, Juli 1941
Die Stadt ist nicht wiederzuerkennen. Von den Hunderttausenden, die im letzten Jahr geflohen sind, sind die meisten wieder zurückgekehrt. Entgegen allen Erwartungen herrscht nicht die befürchtete barbarische Stimmung. Trotzdem sind die fremden Uniformen auf den Straßen nicht zu übersehen. Auch nicht das riesige Hakenkreuz-Banner, das sich am Eiffelturm im Wind bläht. Es gibt jetzt eine Ausgangssperre und weniger Essen. Einige der legendären Pariser Restaurants sind fest in deutscher Hand. Nach außen hin hat sich nur wenig verändert. Aber das Lebensgefühl der Stadt scheint geknebelt und gefesselt unter einer Flut von schwarzen Stiefeln zu liegen. Dort, wo sich der Widerstand bereits zu formieren beginnt, herrschen Angst und Misstrauen. Aber dieser Widerstand wird Blüten treiben, die sich die Besatzer nicht in ihren wildesten Träumen vorstellen können.
Im Norden von Paris, ganz in der Nähe der Rue la Fayette, liegt eine unscheinbare, schmale Passage, eingebettet zwischen kleinen Geschäften und überdacht von fleckigem Glas, auf dem die Herbstblätter vermodern und im Laufe der Zeit immer weniger Licht hindurchlassen. Wenn man abends den Strom der Leute verlässt und in die Passage einbiegt, wird man die Geschäfte geschlossen vorfinden. Es ist finster, und die Schritte der Passanten draußen auf der Straße hallen bis in diesen merkwürdigen menschenleeren Schlauch unter dem Glasdach. Man muss schon einen besonderen Grund haben, um hier einzubiegen. Dann wird man allerdings sofort das winzige Fenster bemerken, das am Ende der Passage schummrig leuchtet. Nicht rot, doch die Besucher wissen genau, dass sie hier genau richtig sind.
In der Welt am anderen Ende der Passage residiert eine Frau, die manche gerne in den berühmten Bordellen von Paris vermuten würden. Aber ihr kleines Boudoir ist in keinem der zwielichtigen Adressverzeichnisse der nächtlichen Amüsierbetriebe aufgeführt, und es liegt so versteckt, dass niemand sich zufällig dorthin verirrt. Obwohl sie weder auf sich aufmerksam macht wie die marktschreierischen Edelhuren noch sich mit den reichen Parisern oder den deutschen Besatzern in den teuren Restaurants zeigt, hat sie es dennoch geschafft, dass halb Paris von ihr spricht, wenn auch hinter vorgehaltener Hand.
Jade Louanne ist das, was man einen geheimen Star nennt, und sie unternimmt nichts, um das sie umgebende Geheimnis aufzulösen.
In Paris florieren die Bordelle, und seit die Deutschen die Stadt übernommen haben, sogar noch mehr. Jade Louanne ist für diejenigen, die mit gewissen Erwartungen zu ihr kommen, vielleicht eine Enttäuschung. Es kann Wochen oder Monate dauern, bis sie sich großzügig zeigt und Zugang zu ihrem Boudoir gewährt, was schon manchen Mann um den Verstand gebracht hat. Man ist es nicht gewohnt, dass eine Hure einen Kunden so lange warten lässt. Aber diejenigen, die das komplizierte Arrangement der Terminvereinbarung überstanden haben und endlich im Besitz ihrer Adresse sind, verfallen ihr danach vollständig. Nach einem Besuch bei ihr wollen die Männer mit dem Erlebnis prahlen. Aber irgendwie schafft sie es, dass sie es doch nicht tun. Niemand hat sich bisher gefunden, der offen und freizügig über Jade Louanne spricht. Man ergeht sich in Andeutungen. Und die besitzen eine derartige Macht, eine solche Anziehungskraft, dass eine Prahlerei gegen sie lächerlich platt und gewöhnlich gewirkt hätte.
Wenn jemand den Strom der Flaneure verlässt und in die Passage einbiegt, dann hat er für gewöhnlich ein äußerst aufwendiges Prozedere hinter sich. Es ist sehr kompliziert, an Jade Louanne heranzukommen.
Sie veröffentlicht in unregelmäßigen Abständen eine kleine, unscheinbare Anzeige in den großen Tageszeitungen von Paris, nur nicht in der Zeitung der Besatzungsmacht. Doch es hat sich ohnehin längst bis zu den Deutschen herumgesprochen, was den französischen Zeitungen einen höheren Absatz beschert, denn man kauft sie in der Hoffnung, die begehrte Anzeige eines Tages zu finden. So handhabt Jade Louanne es seit drei Jahren. In einem winzigen Kasten steht ein einziges Wort.
Essayez. Versuchen Sie es.
Darunter eine Telefonnummer, die jedoch immer nur wenige Wochen erreichbar ist. Wer Glück hat, spricht mit einer jungen Frau namens Marlis, die den Anrufer auffordert, in einem Park von Paris zu einer festgesetzten Uhrzeit einem der armen Blumenmädchen eine Nelke abzukaufen, und zwar zum Preis eines Abendessens. Um den Stiel der Nelke